Eine seiner letzten Nachrichten, denn neben Klima, Krieg, Krisen und Corona war ihm auch das immer noch wichtig: Fußball. Borussia Dortmund. "Chefchen, was ist denn los, warum spielen unsere tollen Kicker so verhalten?" Und dann redete und schrieb sich Martin in Rage. Rage konnte Martin. Und Ironie. Er war ja nicht nur ein begnadeter Fotograf und Kartograf der deutschen Seele. Er war darüber hinaus auch ein Meister des Wortes. Ich habe ihn für beides bewundert und verehrt.
Wir trafen uns Anfang des Jahrtausends zum ersten Mal. Gorleben, Castor-Transport. Eine Reportage für den stern. Martin wie immer mit kleinem Gedeck, denn er brauchte nie viel. Kamera und Blitz, fertig. Wir blieben ein paar Tage im Wendland, er arbeitete schnell und präzise und höchst professionell. Und er brachte selbst die Leute zum Lachen, die im Gleisbett lagen und sich an Schienen ketteten.
Ein Meister des Bildes, der Ironie und der Sprache
Als wir nach Hamburg zurückfuhren, waren wir Freunde geworden und arbeiteten fortan bei diversen Reportagen zusammen. Eine dieser Recherchen zog sich über Monate in Hamburg-Wilhelmsburg. Der Anlass traurig und tödlich; ein Kampfhund hatte einen kleinen Jungen zerfleischt. Es brauchte vor allem Geduld und Zeit, ein paar Mal wurden wir abgezockt und immer wieder bedroht. Und stets war es Martin, der mit Witz die Schärfe nahm, "hey Meisterchen, mach du mal nicht auf dicke Hose, du hast ja nicht mal einen Flaum". Und schon trollte sich Meisterchen. Auch das war Martin. Ehrlich und gerade und mutig. Er stammte zwar gebürtig aus Göttingen, aber für mich war er immer Westfale.
Er konnte schwierig sein, zuweilen missgelaunt, gelegentlich stritten wir, wie man unter Freunden eben streitet. Und versöhnten uns Stunden später, wie sich Freunde eben versöhnen.

Martin war ein durch und durch politischer Mensch, sozialisiert in der Ära Brandt. Er fotografierte bei der Besetzung der Ölplattform Brent Spar und gewann Preise. Er verabscheute Nazis und Neonazis, sein berühmtestes Foto erschien 1992 nach den Krawallen in Rostock-Lichtenhagen, ein Rechtsextremer im Deutschland-Trikot und in vollgepisster Jogginghose, den Arm ausgestreckt zum Hitler-Gruß. Das Bild wurde (und wird bis heute) weltweit nachgedruckt. Oft ohne Quellenangabe und noch öfter ohne Bezahlung. Vor ein paar Jahren legte sich Martin darüber mit Jan Böhmermann an; der hatte das Foto auf Twitter verbreitet, ohne Honorar. Sie zofften sich öffentlich, und ausgerechnet Martin stand im Zentrum eines Shitstorms.
Er liebte die Menschen und deren Schrullen und Macken
Lichtenhagen machte Martin jedenfalls im ganzen Land bekannt. Das Foto entstand im Auftrag des "Spiegel", der nun über ihn schrieb "Der Mann, der das hässliche Deutschland einfing". Was in Teilen stimmt, in weiten Teilen aber nicht. Denn Martin liebte die Menschen, er liebte ihre Schrullen und ihre kleinen Macken, die schrägen und absurden Momente haarscharf vor der Peinlichkeit – und eben nie das: peinlich. Skurril ja, aber mit Würde. Dafür hatte er einen Blick wie kein anderer. Er fotografierte als Student in Bielefeld in den 1980er Jahren seine ostwestfälische Wahlheimat, Waschbeton und Schützenfest, Menschen und Tiere, Kaufhäuser und natürlich Ernie, berühmtester Flitzer Deutschlands. Immer wieder Ernie, von dem er mir auf langen Fahrten die lustigsten Anekdoten erzählte. Ernie nackt auf dem Fahrrad in der Fußgängerzone, Ernie nackt vor Tchibo. Martin liebte Ernie, dieses Unangepasste und Unerschrockene. Genauso war er ja selbst.
Er nannte seine Projekte "Leidkultur" oder "Echt Seltsam" oder "Kennzeichen D", und als die Mauer fiel, verfügte er über gleich zwei seltsame deutsche Staaten als fotografisches Territorium. Ließ sich durch den Osten treiben, dieses neue, alte Deutschland, porträtierte den wunderlichen Westen und immer wieder seine Stadt Hamburg. Schuf großartige Sozialreportagen, denn das wird bei seinem Werk oft übersehen. Und fing zugleich und als Kür die unfreiwillige Komik des gesamtdeutschen Alltags ein. Wenn ich ihn traf auf ein Bier, hatte er immer seine Kamera dabei, und auf diese Weise kam im Laufe der Jahre eine Sammlung von nicht eben vorteilhaften, aber sehr wirklichkeitsnahen Porträts zustande. Er postete sie selbstverständlich auf Facebook, "na Keule, weißte noch?".
Wir machten gemeinsam Urlaub auf Rügen mit unseren Kindern, und so wurde aus Martin auch ein Freund der Familie. Er besuchte uns mit seiner Familie in New York, es war nach 9/11. Martin staunte über dieses Amerika, das ihn einerseits faszinierte und andererseits zur Weißglut trieb.
Sein letztes Buch "Land des Lächelns" ist sein Vermächtnis
In den letzten Jahren sahen wir uns selten. Wir lebten in London, er in Hamburg. Wir telefonierten und schrieben uns. "Alter, wann kommt ihr endlich zurück aus England?", fragte er immer wieder. Und als wir dann zurückkamen, legte sich Corona über Land und Leute.
Martins letztes Buch heißt "Land des Lächelns". Ein typischer Langer. Eine Art Best of Martin. Eine Reise zurück zu seinen Anfängen, Ostwestfalen schwarz-weiß in den 80ern. Wer den Band durchblättert und alt genug ist, weidet sich an Erinnerungen, denn Ostwestfalen war ja überall. Wer es durchblättert, völlig unabhängig vom Alter, wird schmunzeln und hier und da lachen, "Land des Lächelns". Es ist sein Vermächtnis an uns.
Mein Freund Martin Langer starb Anfang der Woche in seiner Wohnung in Hamburg. Er wäre am 9. März 66 Jahre alt geworden.