Die Briten sind kein sonniges Völkchen, deshalb haben sie so viel Humor. Im Hausflur von Hugh Johnsons Londoner Zweitwohnung hängt die Speisekarte eines längst vergangenen Restaurants, sie stammt aus dem Jahr 1941, "drei Monate nach dem "Blitz"", sagt Johnson und deutet grinsend auf einen klein gedruckten Satz am unteren Kartenrand: "Wegen der Bombenangriffe werden alle Rotweine dekantiert."
Nein, Johnson war nie in diesem Restaurant, es machte noch während des Krieges dicht, und vom kleinen Hugh weiß die johnsonsche Familienchronik (die Autobiografie "Hugh Johnsons Weinwelt" erscheint in diesen Tagen), dass er auch erst 1947 zum ersten Mal Wein trank - aber das wäre dann immerhin mit acht Jahren gewesen. Ob es ein bewusstes Training war, das man dem Jungen angedeihen ließ? Ahnten die Eltern, dass der Junge mal ein Buch schreiben würde, das den Familiennamen trägt (davor das Prädikat "der große") - und das für die Weinwelt so wichtig war wie für den Rest der Menschheit Kolumbus' Entdeckung eines brandneuen Kontinents? "Ach nein", sagt Johnson, "sie dachten wohl, dass ein Junge, der fürs Sonntagsessen Speisekarten schreibt, auch Wein probieren darf." Der große Johnson allerdings kann bis heute nicht kochen - dafür reicht er zum Interview prima Äpfel aus dem eigenen Garten.
Keine Chance in erlauchten Kreisen
Die erste Verkostung zeitigte nachhaltige Wirkung: Johnson blieb dem Getränk durch die Jugendjahre treu, und beim Studium in Cambridge wurde er eilig Mitglied der "Wine & Food Society". "Ein optimaler Einstieg ins Weinstudium", findet Johnson noch heute. "Die Weinhändler hatten uns als vielversprechende zukünftige Kunden ausgemacht. Und sie ließen uns tolle Weine probieren." In den erlauchten Kreis jener, die bei Wettverkostungen gegen die Uni Oxford antraten, hat es Johnson trotzdem nie geschafft.
Dafür bekam der frischgebackene Literaturwissenschaftler schnell einen Job bei der Zeitschrift "Vogue". Weil aber über Mode, Kunst und Literatur andere besser zu schreiben wussten, bot er an, Kolumnen zu einem Thema zu schreiben, das journalistisch bislang kaum behandelt worden war: Wein. Die Leser mochten seinen Stil, die Weinbarone seine Integrität - ein paar Jahre später hatte sich Johnson richtig eingetrunken. Dabei kamen ihm neue Ideen: Wie wäre es, die Welt des Weines zu vermessen, quasi einen Straßenatlas herzustellen, inklusive der Abzweigen und Sackgassen? Ein Verleger ließ sich begeistern, mit 1000 Pfund Vorschuss zog Johnson samt seiner Frau über die Weingüter. 1966 erschien "Wein", der erste Bestseller, 1971 der "Weinatlas" - bis heute hat er sich millionenfach verkauft.
Beschreiben statt Bewerten
Der nachfolgende "Große Johnson" und der jährliche "Kleine Johnson" (passt in jede Jacketttasche) sind wohl deshalb so beliebt, weil Johnson erstens Tausende von Weinen auflistet und diese dann zweitens mehr beschreibt als bewertet - in einer Sprache, die auch der versteht, dessen Zunge nicht 17 verschiedene Fruchtaromen herausschmecken und katalogisieren kann. Außerdem unterwirft Johnson Geschmack nicht einem 100-Punkte-System wie sein Kollege Robert Parker, der amerikanische Wein-Guru. Dessen Schema mag Johnson gar nicht: "Alle Weine, denen er weniger als 90 Punkte gibt, verschwinden aus den Regalen. Und er mag am liebsten sehr aromatische Weine. In amerikanischen Läden findet man nichts anderes mehr!"
Dafür, Herr Johnson, haben Sie aber allein schon aufgrund des Altersunterschieds viel mehr Weine als Parker verkostet, oder? "Stimmt", seufzt Johnson zufrieden. Wie viele waren es denn bislang? "Mal sehen", murmelt er, "2000 pro Jahr ... 40 Jahre ... das macht ... nur 80 000 Weine? Aber das ist doch viel zu wenig!"