Meinung Kind krank, na und? Legen wir uns einfach dazu

Eine Mutter umarmt ihr krankes Kind
Krankes Kind, komm kuscheln! Diese Botschaft will unsere Autorin ihren Kindern vermitteln (Symbolbild).
© RyanJLane / Getty Images
Rotze, Kotze, Flüssigkacka: Ein krankes Kind ist nicht einfach krank. Sondern ein organisatorisches Problem für Eltern. Warum eigentlich? Plädoyer für mehr Gelassenheit

Ich weiß nicht mehr, wann die Angst kam. Als ich nach der Elternzeit wieder anfing zu arbeiten? Mit Augusts letzter Impfung? Oder als Rosa sich mehrmals nachts übergeben hat? Habe ich zu viele Mama-Blogs gelesen mit Artikeln wie "Die ewig kränkelnden Kids"? Oder zu lange mit Helikoptereltern an der Rutsche gestanden ("Antonia darf nicht Bus fahren, wegen der Keime")?

Ein krankes Kind ist vor allem ein Orga-Problem

Ich erlebe das immer wieder, dass harmlose Krankheiten, die Kinder nun einmal haben – Erkältungen, Magen-Darm-Virus, Ohrenentzündung, Fieber – wahre Angstzustände bei Eltern auslösen, und das in einem Land, in dem alle wirklich fiesen Infektionen ausgerottet sind (Tetanus! Diphtherie! Polio!). Erkrankungen bei Kindern werden seit Jahrzehnten intensiv erforscht und wirksam bekämpft. Die Gesundheitsversorgung unserer Kinder ist optimal und kostenlos. Im Vergleich zum großen Rest der Welt geht es unseren Kindern bestens. Und trotzdem machen wir Eltern uns verrückt. Wegen ein bisschen Rotze und Kotze.

Manche von uns haben völlig den Sinn für die Verhältnismäßigkeit verloren. Wir wischen mit Feuchttüchern um die Wette, packen Durchfallwindeln in Vanilleduftbeutel und hoffen heimlich, dass unser Kind kein anderes ansteckt oder angesteckt wird. Wir rufen einander an, um zu fragen, ob das andere Kind auch ja nicht krank ist, bevor wir uns gegenseitig besuchen. "Emil hat immer so eine Rotznase, das möchte ich jetzt ungern riskieren, frag doch jemand anderen, ob er zum Spielen kommen mag", höre ich meine Freundin Jule zu ihrem Sohn Tim sagen.

Das ist nichts Schlimmes, das braucht einfach nur Zeit

Seien wir ehrlich: Es ist längst nicht nur die Sorge ums Kind, die uns umtreibt. Wir wissen eigentlich, dass die meisten Erkrankungen harmlos sind und von allein wieder verschwinden. Wer einen guten Kinderarzt hat, wird regelmäßig daran erinnert: Das ist nichts Schlimmes, das braucht einfach nur Zeit.

Zeit, die wir nicht zu haben glauben. Und das ist das eigentliche Problem: Am allermeisten sind wir davon gestresst, dass sich unsere perfekte Tagesplanung auflöst wie ein Zäpfchen im Kinderpo. Wenn keine Großeltern zur Unterstützung in der Nähe sind, hat man mit krankem Kind ja gleich einen Haufen Probleme: Wer bleibt zu Hause? Wer muss was absagen? Kann ich heute das Auto nehmen? Was?! Das brauche ich aber unbedingt für den Trip zum Kinderarzt! Kurzum: Das kranke Kind stört. Wir müssen arbeiten, wir haben Termine, man erwartet uns, und da können wir nicht einfach zu Hause bleiben. Ich kenne Mütter, die lügen ihren Arbeitgeber an. Statt zu sagen, ihr Kind sei krank, behaupten sie, sie seien selbst krank. Viele Eltern glauben, sich einen Ausfall "nur" wegen der Kinder nicht leisten zu dürfen. Fast schämen wir uns, dass das Kind gerade nicht super funktioniert.

Jede Yoga-Lehrerin würde applaudieren

Dabei kann so ein schöner Schnupfen viel Gutes haben, wenn wir uns nur darauf einließen. Denn die Krank-Zeit zu Hause ist eine Auszeit von dem durchorganisierten Tag, der uns sonst unter Druck setzt. Eine Auszeit, die wir uns ohne schlechtes Gewissen gönnen könnten. Jede Yogalehrerin würde applaudieren.

Mir wurde das an einem Tag klar, den ich im ICE verbracht habe. Der Zug hatte anderthalb Stunden Verspätung. Ich war alleine mit zwei Kindern, einem Kinderwagen, Maxi-Cosi, Koffer, Rucksack und Kinderrucksack. Meine Nerven lagen blank, meine Kinder quengelten und hatten Hunger. Ich ließ mich zu einem Besuch im Bordrestaurant überreden. Meine Tochter bestellte Spaghetti mit Tomatensoße, aß zwei Gabeln und schob den Teller weg. "Satt“, sagte sie und verschränkte die Arme. Ich polterte los: "Rosa! Das wird jetzt aufgegessen, du wolltest das unbedingt haben und jetzt ISS!" Rosa: "Ich hab Bauchweh". Ich: "Ach, jetzt hast du plötzlich Bauchweh und eben noch nicht? Tu mir den Gefallen, iss auf und lass das Theater." Rosa aß stillschweigend mit gesenktem Blick. Dann plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, kotzte sie alles aus. Über den ganzen Tisch in einem überfüllten Restaurant. Ich schämte mich. Weil ich sie zum Essen gezwungen hatte, weil alle mich anstarrten, weil es nach Kotze stank. Mit dem anderen Kind auf dem Arm versuchte ich, mit einer winzigen Serviette das Erbrochene wegzuwischen. Rosa heulte, mein Sohn heulte, und mir war auch zum Heulen.

Und da kam sie: die coolste Bahn-Angestellte der Welt. Streichelte Rosa den Kopf, nahm mir den Bub vom Arm, rief einen Kollegen mit Wassereimer und Schwamm, schubste mich aus dem Abteil und machte einfach alles sauber. Keine Angst vor Keimen, keine Angst vor Ansteckung, Berührung, Kinderkotze oder Krankheit. Sie nahm es einfach, wie es war. Das hat mich beeindruckt. 

Kommt her, ihr Keime, macht es euch gemütlich!

Als wir endlich zu Hause waren, lag meine Tochter noch zwei Tage spuckend im Bett. Aber ich hatte etwas Wichtiges gelernt: das Kranksein meiner Kinder anzunehmen. Seitdem habe ich keine Panik mehr, keine Angst, wenn eine Kinderstirn heiß wird oder das da in der Windel irgendwie komisch aussieht. Ich denke dann nicht mehr: Himmel, wie mache ich das jetzt? Sondern: Alles andere kann warten. Kommt her, ihr Keime, macht es euch gemütlich! Kann sein, dass wir drei Tage im Bett verbringen, im Hier und Jetzt, und ich Bücher vorlese, mir Geschichten ausdenke. Schmuse und kuschle, Zwieback verteile und sämtliche Fensterecken des Kinderzimmers zähle.

Kranksein gehört zum Kind dazu wie seine Liebe für Nudeln mit Soße. Wir Eltern sollten das endlich akzeptieren und das Beste daraus machen. Mutprobe fürs nächste Mal: Ganz selbstverständlich den Arbeitgeber anrufen und sagen: "Mein Kind ist krank, ich bleibe heute zu Hause." Und dann vergessen wir, was wir an diesem Tag vorgehabt haben, vergessen, was alles zu erledigen ist, lassen Termine und Verpflichtungen sausen.

Vorübergehend verschnupfte, fiebernde und ja, selbst flüssigkackende Kinder können ein Geschenk sein, sie sind Entschleunigung, Wärme, Familienbett. Vorteil auch: Das kranke Kind ist meist ein schlappes Kind. Es schläft viel. Aber auch wiederum nicht so viel, dass man zwischendurch irgendetwas erledigen könnte. Eine halbe Stunde hier, 20 Minuten da. Da lohnt es nicht, Mails aus dem Büro zu lesen oder die Belege für den Steuerberater zu sortieren. Es lohnt sich noch nicht mal, das Bad durch zu wischen. Also bleibe ich liegen. Schaue raus. Schaue aufs Kind neben mir, wie es schläft.

Ich denke an ein Zitat vom alten Goethe und glaube, es das erste Mal richtig zu verstehen: "Wer wäre imstande, von der Fülle der Kindheit würdig zu sprechen! Wir können die kleinen Geschöpfe, die vor uns herumwandeln, nicht anders als mit Vergnügen, ja mit Bewunderung ansehen." Der Satz stammt aus "Dichtung und Wahrheit". Die Wahrheit ist: Kinder werden krank. Und wieder gesund. Legen wir uns in der Zwischenzeit einfach dazu. Und gut.

Dieser Text erschien ursprünglich in der Zeitschrift NIDO, Ausgabe 1.2017