Ärzte kennen ihn gut, den Typ des Simulanten. Oft handelt es sich um junge Männer, die kurz vor der Musterung über Rückenschmerzen klagen. Ungewöhnlich dagegen ist der Fall von Wolfgang S., dem es vor 17 Jahren gelang, die medizinischen Gutachter von seiner Invalidität zu überzeugen. Jahrelang lebte der große, kräftige Mann von Erwerbsunfähigkeitsrente und Pflegegeld. Doch weil er alle seine Frauen schlug und vergewaltigte, kam der unglaubliche Schwindel ans Licht. Im Gefängnis nun erreichten S. die Geister, die er gerufen hatte: Er ist inzwischen schwer krank.
Vom Charmeur zum Schläger
Sieben Jahre Haft lautete im September 2003 das Urteil gegen Wolfgang S., auf das seine ehemaligen Lebensgefährtinnen sehnsüchtig gewartet hatten. Kurz darauf trafen sie sich zum Grillen. Mit der Party endete für die Frauen eine monatelange Phase aufwühlender Telefonate, in denen Traude, Christa, Regina und Almut mühsam die Wahrheit über jenen großen, gutaussehenden, blonden Hünen zusammen getragen hatten. Jede von ihnen kannte eine andere Legende: Für eine Frau verdiente S. sein Geld beim russischen Geheimdienst KGB, eine andere glaubte an eine Tätigkeit in der Maffia, der nächsten berichtete er von der Fremdenlegion. Sie alle hatte er um Verständnis gebeten, wenn er über seine Arbeit nur wenig Konkretes berichten und keine Fragen beantworten mochte. Und alle mussten erleben, wie sich der Charmeur binnen Wochen in einen brutalen Schläger und Tyrannen verwandelte.
Als seine letzte Gefährtin ihn verlassen wollte, kettete er sie stundenlang mit Handschellen an sein Pflegebett, dann vergewaltigte er sie. Die Frau zeigte ihn an. Ihre Aussage und die zweier anderer Frauen brachten S. ins Gefängnis. Seitdem stützten sich die geschundenen Ex-Gefährtinnen und geben sich das Gefühl, "dass man nicht allein nur so ein Loser war", wie eine von ihnen vor dem Berliner Landgericht erzählt.
Arbeitsscheu, mit Neigung zu langen Krankheiten
Das beschäftigt sich nun wieder mit Wolfgang S. Denn bei der Verurteilung des kräftigen, graubärtigen Mannes fiel auf, dass er laut Krankenakte seit 1990 ein schwerer Pflegefall ist, der nicht gehen, stehen oder liegen kann. Zwei Gutachter attestierten ihm "degenerative Wirbelsäulenveränderungen mit statisch-dynamischer Insuffizienz sowie eine bleibende Lähmung beider Beine". Im April 1995 gaben sie ihm die Pflegestufe III. Weil ein Gelähmter aber nicht vergewaltigen kann, muss S. die Beschwerden simuliert haben. Wegen Betruges an der Renten-, Sozial- und Pflegeversicherung von rund 237.000 Euro drückt der 55jährige nun erneut die Anklagebank.
Wolfgang S. wird im Rollstuhl in den Gerichtssaal geschoben. Seine Miene ist versteinert, seine Haut ist grau. Regungslos hört er zu, wenn seine vielen Gefährtinnen das Leben und Leiden an seiner Seite schildern. Über die neuen Tatvorwürfe sind sie nicht erstaunt. "Der hatte eine Arbeitsallergie", sagt Traude T. Die kleine, füllige Frau lernte den Angeklagten vor 30 Jahren kennen. Damals verriet ihr S., er würde mit spätestens 40 Jahren im Rollstuhl sitzen. Er sei nicht so bescheuert, arbeiten zu gehen. Bereits in der ehemaligen DDR drückte er sich vor dem Arbeiten, erinnert sich die Rentnerin. Beim Tragen von Fleischhälften stürzte er eine Treppe herunter und ließ sich dann über Monate krank schreiben. Bei der Arbeit als Kohlenträger passierte ihm das Gleiche.

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"Guck mal, jetzt hinkt er anders"
Doch Traude T. ahnte die Täuschung. Zu Beginn ihrer Ehe hatte S. ihr verraten, er könne eine Treppe herunter fallen, ohne sich etwas zu brechen. Vor Arztbesuchen soll sich der Scheinkranke mit dicken Verbänden präpariert haben. "Gehumpelt hat er nur, wenn er dran gedacht hat. Dann aber mächtig", sagt T. Sie und ihre beiden Kinder amüsierten sich damals: "Guck mal, jetzt hinkt er anders! Vorhin war es noch das rechte Bein."
Ein Bekannter des Angeklagten sagt vor den Richtern: "Der spielt Ihnen den Tod am Mond vor". Traude T. bestätigt: "Er konnte sagenhaft gut simulieren. Auf Kommando wurde er blass, seine Augen flatterten." Diese Techniken erlernte S. nach Meinung seiner Gefährtinnen in einem brandenburgischen Heim für schwer erziehbare Kinder. Außerdem soll er gern im Lehrbuch "Forensische Medizin" von Otto Prokop geschmökert haben. Ostdeutschlands bekanntester Rechtsmediziner äußert sich darin auch über "Simulation und Selbstbeschädigung". Er empfiehlt seinen Kollegen: "Gerade bei der Beurteilung von Lähmungen erweist es sich als zweckmäßig, in der näheren Umgebung des Patienten Erkundigungen einzuziehen."
sogar Morphium gab's auf Kassenkosten
Hätten Prokops Kollegen dies damals getan, sie hätten ihren Patienten kaum wieder erkannt. Seine Gefährtinnen beschreiben den Angeklagten durchweg "als Bild von einem Mann", der über enorme Kräfte verfügte. Eine sah ihn über mehrere Stockwerke einen schweren Motor schleppen, eine andere berichtet von einer Couch, die er allein trug. Er half bei Umzügen und beim Hausbau. Außerdem soll der Pflegefall S. stundenlang ein Boot über die Ostsee gesteuert haben und auf dessen Mast geklettert sein. Ihre Angaben belegten die Zeuginnen mit Fotos und Videos.
Doch weil die Ärzte eben nicht fragten, kassierte S. ab Juli 1991 von der Landesversicherungsanstalt Erwerbsunfähigkeitsrente - in zwölf Jahren rund 87.000 Euro. Für die Pflegestufe II und später III bekam er in neun Jahren rund 67.000 Euro. Zusätzlich bezahlte ihm das Sozialamt zwei Jahre lang rund 34.000 Euro Pflegehilfe. Um seine Show glaubwürdig erscheinen zu lassen, beantragte S. bei der AOK zahlreiche Hilfsmittel wie Rollstühle, Pflegebetten, einen Treppenlifter und eine mobile Rampe im Wert von 40.000 Euro. Außerdem ließ er sich für 9000 Euro Morphiumtabletten verschreiben.
Angebliche Krankheitsschübe
Seinen Gefährtinnen gegenüber, die ihn nur selten im Rollstuhl sitzen sahen, berichtete er von Krankheitsschüben. Dank Morphium ginge es ihm manchmal gut, ansonsten hätte er wahnsinnige Schmerzen. Diese sollen ihn insbesondere vor den regelmäßigen Arztvisiten ereilt haben. "Dann machte er sich rollstuhlfein, um seine krankhafte Erscheinung besser zur Geltung zu bringen", erinnert sich seine letzte Freundin. Sein Puls wurde schwach, er sackte in sich zusammen. "Ich hatte großes Mitleid mit ihm", erzählt die Zeugin.
Wolfgang S. schweigt bislang zu den Vorwürfen, das Reden überlasst er seinem Verteidiger Christian Tümmler. Der fragt sich: "Wo ist das Motiv? Für die paar Kröten immer auf der Hut vor den Nachbarn sein müssen? Da lohnt sich jeder andere Betrug mehr." In seinem Prozess stößt Wolfgang S. nun auf immens misstrauische Richter. Diese ließen sich heute von einem medizinischen Gutachter über den tatsächlichen Gesundheitszustand des Angeklagten aufklären. Danach scheint es, als ob Wolfgang S. inzwischen den Zustand erreicht hat, den er jahrelang nur simulierte: Der Diabetiker leidet an Durchblutungsstörungen, im Sommer erlitt er einen Hirninfarkt: "So etwas kann man nicht simulieren!", sagt der Gutachter.