Frau Tiedemann, warum zieht es Partner bei großem Stress nicht unbedingt in die Arme des anderen?
Soziale Verbindung kostet zunächst immer Energie. Deshalb ist Rückzug erst mal naheliegend. Wenn das emotionale Band aber abreißt oder in schweren Zeiten nicht trägt, zeigt es sich, ob Paar-Inseln vorher gut gepflegt wurden.
Wie geht das?
Es geht um eine Kultur des Nachfragens und Fühlens: Was spürst du, was fühlst du? Was brauchst du emotional? Am besten sollten Paare von Anfang an regelmäßig einmal pro Woche eine Auszeit zu zweit etablieren. Zusammen ausgehen, sich einander widmen. Mit einem Fokus: Wie fühle ich mich? Wie fühle ich mich mit dir?

Ist Rückzug bei Stress manchmal sinnvoll?
Gefährlich sind Begegnungen unter Aufladung, etwa wenn einer von der Arbeit kommt, der andere einen vollen Tag mit Kindern verbracht hat und nicht mehr aufnahmefähig ist. Ich empfehle gern ein Stress-Barometer. Das kann man sich selbst basteln und im Eingangsbereich aufhängen. Da gibt es eine Skala und einen Schieber. Den können auch Kinder benutzen, wenn sie aus der Schule kommen. Ist der Schieber im roten Bereich, wissen die anderen und weiß ich selbst: Jetzt heißt es, runterzuregulieren. In diesem Bereich fährt man schnell aus der Haut und ist nicht offen und nicht zu Empathie in der Lage.
Wie bleibt man sich nahe, wenn es ernsthafte Herausforderungen gibt?
Es geht in Beziehungen um das gemeinsame Dritte. Das gibt einer Beziehung Tiefe und Sinn. Das können gute Dinge sein, Kinder, Aufgaben. Es können auch Belastungen sein. Eine Erkrankung. Die Krisen, der abgesagte Urlaub, der abgesagte Bauplatz.
Was hat das gemeinsame Dritte mit unserer Sexualität zu tun?
Wenn wir gemeinsam Aufgaben bewältigen, gemeinsam Schweres erleben und uns dabei unterstützen, schafft das Vertrauen und Nähe. Das ist die Grundlage für erfüllende Sexualität, auch in Krisenzeiten. Das Dritte kann auch die Sexualität sein: Man kann sich vornehmen, sie gemeinsam gut zu gestalten.