Seit fast zehn Jahren ist es Schachtar Donezk gewohnt, auf der Flucht vor dem Krieg Heimspiele in der Fremde auszutragen. Dabei hat es den ukrainischen Vorzeigeklub immer weiter westwärts getrieben, seit er im Frühjahr 2014 durch das Kriegsgeschehen im Donbas aus der heimischen Arena vertrieben wurde: von Charkiw nach Kiew, nach Lwiw, nach Warschau.
In dieser Champions League-Saison macht der ukrainische Fußballmeister nun in Hamburg Station: Schachtar trägt seine drei Gruppenspiele im Volksparkstadion aus. An diesem Dienstag wartet mit dem FC Barcelona der Saisonhöhepunkt auf die Heimatvertriebenen. Das Volksparkstadion ist trotz teils horrender Preise ausverkauft. Die Einnahmen teilen sich der Hamburger SV und Schachtar Donezk; die Organisation der Spiele hat der HSV übernommen.
In Hamburg leben etwa 40.000 Ukrainerinnen und Ukrainer. Auch deswegen ist die Hansestadt eine gute Wahl – Düsseldorf, Gelsenkirchen und Danzig hatten ebenfalls Interesse, als es im Sommer darum ging, wer den ukrainischen Nomaden Asyl gewähren würde. Hamburg mit seinem ehrlichen Sportinteresse setzte sich durch. "Wir waren sofort begeistert, als sich die Möglichkeit bot, in Hamburg zu spielen. Die Stadt hat einen großartigen Ruf, sie gilt als offenherzig und progressiv", sagte Schachtar-Geschäftsführer Sergei Palkin damals.

Viel Unterstützung für die Ukrainer
Das hat sich bewahrheitet. Vor knapp zwei Monaten beim ersten Gruppenspiel gegen den FC Porto (1:3) war es eine laue Nacht, fast 50.000 Menschen schauten zu, junge Geflüchtete waren die Einlaufkinder, auf dem Rasen klebte vor dem Anpfiff ein "Peace!"-Banner. Hinterher sagte Kapitän Taras Stepanenko: "Wir wissen, wie sehr die Deutschen der Ukraine und den ukrainischen Menschen helfen. Wir spüren jeden Tag ihre Unterstützung."
Dann verschwand die Reisegruppe in ein Hamburger Hotel. Am nächsten Morgen ging es mit dem Flugzeug aus der Hansestadt ins polnische Rzeszów. Von dort zweieinhalb Stunden mit dem Bus über die Grenze nach Lwiw in der Westukraine, wo der Verein eine zweite Basis unterhält. Und dann nach einer Pause weiter, die 700 Kilometer per Bus Richtung Kiew. Dort hat der moderne, westlich aufgestellte Verein seit 2014 seine Zentrale. Die Spieler und der Stab wohnen dort samt Familien.
Positive Gefühle an die Fans und an die Armee senden
Dass das Interesse bei einem Gegner wie Barcelona noch einmal deutlich wächst, hat auch Darijo Srna, 41, bemerkt. Der Sportchef von Schachtar sagt: "Ich hatte viele Anfragen für Tickets. Viele meiner Freunde werden in Hamburg sein und Schachtar unterstützen." Srna arbeitet seit 2003 in verschiedenen Funktionen für Schachtar. In seiner kroatischen Heimat gilt er als Legende.
Am Telefon in Kiew würde Srna am liebsten nur über Fußball sprechen – wie der für seine Jugendarbeit berühmte Klub Talente einbaut, wie gut die Leistung beim 1:2 in Barcelona vor zwei Wochen war –, aber in Kriegszeiten ist da leider mehr als der rollende Ball. Srna sagt: "Es ist mein dritter Krieg. Unglaublich, dass wir im 21. Jahrhundert immer noch Krieg in Europa haben. Es ist sinnlos. Niemand hat etwas zu gewinnen. Es hinterlässt Tote und Trauma überall, ich kann das beurteilen. Ich lebe seit 20 Jahren hier, ich preise diese Menschen – sie sind warm, herzlich, nett, freundlich, offen, lustig." Jeder im Klub kenne jemanden, der im Krieg umgekommen sei, sagt Srna. "Wir sind froh, dass wir den ukrainischen Fußball repräsentieren können – wir können über die Champions League positive Gefühle an all unsere Fans senden, an die Armee, die ganze Ukraine. Das ist unsere Aufgabe."

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Sichtbar bleiben im Fußball
Diese Aufgabe zu erfüllen, ist kompliziert. Häufig fallen Spiele in der heimischen Liga aus, weil die Entfernungen zwischen zwei Spielorten zu groß sind: "Da wir nicht fliegen können, wären wir 13, 14 Stunden unterwegs", sagt Srna. Partien mit kürzerer Anreise finden statt; 500 Fans pro Spiel sind zugelassen. Noch wichtiger seien die internationalen Auftritte. "Wir brauchen die Champions League, um im Fußballgeschäft sichtbar zu bleiben. Auch, um unseren Spielern große Spiele anzubieten", sagt Srna. "Wir müssen zeigen, dass wir noch leben, dass wir kämpfen."
Das Beste geben – und ein wenig Geld einnehmen: Zwar ist Schachtar finanziell gut ausgestattet, weil der Klub Rinat Achmetow gehört, einem der reichsten Männer der Welt. Im Krieg hat der Multimilliardär jedoch viele seiner Aktien verloren. Deswegen ist Schachtar auf Einnahmen angewiesen; solche, wie sie früher gang und gäbe waren – häufig holte der Klub unbekannte Brasilianer, bildete sie aus, verkaufte sie weiter. Solche Geschäfte sind unmöglich geworden: Fußballprofis durften die Ukraine und Russland bis einschließlich dieser Sommer ablösefrei verlassen. Das entschied die Fifa. 40 bis 50 Millionen Euro sind Schachtar so entgangen. Srna sagt: "Die Fifa hat uns 13, 14 Spieler weggenommen, weil sie wegen des Krieges außerhalb der Wechselzone und ohne Ablöse wechseln durften. Aber wir sind noch da. Wir haben 26 neue Spieler eingebaut, seit der Krieg begonnen hat."
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Die junge Mannschaft hat die Reisestrapazen am Sonntag wieder auf sich genommen, diesmal andersherum: Kiew. Lwiw. Rzeszów. Hamburg. Die Spieler hätten sich dran gewöhnt, sagt Srna. Moderne Nomaden. Wenn abends die Champions-League-Hymne laufe, ginge es ohnehin nur noch um Fußball. Aber: "Wir haben das Stadion, die Trainingsplätze, unser Zuhause verlassen. Es ist schwierig für uns, denn wir spielen seit neun Jahren nicht mehr daheim. Der Aggressor Russland hat uns alles weggenommen. Aber Donezk wird immer zur Ukraine gehören. Und Schachtar wird immer aus Donezk sein."
Gerade hat der Sportchef den Trainer ausgetauscht; der bekannte Vorgang, wenn ein Klub unzufrieden ist – nur Dritter der heimischen Liga. Bei allen Besonderheiten ist Schachtar Donezk manchmal eben auch nur – ein Fußballklub. Einer, von dem Dario Srna sagt, fragt man ihn nach den Aussichten für die Saison 2024/25: "Alles ist möglich, wenn wir wieder ein paar Spieler dazu kriegen. Finanziell sind wir okay, wir haben die Champions League. Wir sind am Leben."