Demos gegen rechts Protestforscher: "Das ist schon jetzt die größte Protestwelle in der Geschichte der Bundesrepublik"

Protestwelle in Deutschland: Menschen gehen gegen rechts auf die Straße
Seit Wochen demonstieren Millionen Menschen, wie hier in Berlin, gegen Rechtsextremismus
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Demos gegen rechts, Bauernproteste, Streiks: Selten gab es so viel Mobilisierung. Im Interview erklärt Protestforscher Dieter Rucht, warum es die Massen ausgerechnet jetzt auf die Straße zieht – und wieso die Klimabewegung um die "Letzte Generation" bislang nicht davon profitiert hat.

Herr Rucht, gerade gehen Millionen Deutsche gegen Rechtsextremismus auf die Straße, Bauern demonstrieren gegen Subventionskürzungen, Lokführer, Beschäftigte des Nahverkehrs, Sicherheitskräfte an Flughäfen und Ärzte von Unikliniken streiken für mehr Gehalt und bessere Arbeitsbedingungen. So viel Mobilisierung war selten. Entwickelt sich da gerade eine neue deutsche Protestkultur?
Es passiert gerade sehr viel gleichzeitig, das stimmt. Von allen Seiten wird mobilisiert. Dadurch mag sich der Eindruck aufdrängen, wir hätten es mit einem übergreifenden Trend zu tun. Aber das trifft aus meiner Sicht nicht zu. Eine neue Protestkultur auszurufen erscheint mir verfrüht. Dass derzeit so viele Proteste parallel stattfinden, ist vor allem Zufall.

Treibt die Leute nicht ein allgemeines Krisengefühl, im Politischen wie Wirtschaftlichen, auf die Straße?
Das wäre mir als Erklärung zu vage. Manche der aktuellen Proteste eint, dass die öffentlichen Gelder durch die Haushaltskürzungen knapper werden. Einige Gruppen fühlen sich durch die Einsparungen benachteiligt. Sie bringen das zum Ausdruck, woraufhin andere ebenfalls laut werden, weil auch sie nicht zu kurz kommen wollen. Diese Dynamik verstärkt sich gerade. Das lässt sich auch bei den Streiks beobachten, wo der Arbeitskampf der Lokführergewerkschaft GDL auch andere Berufsgruppen ermutigt haben dürfte. Aber das alles würde ich unabhängig von den Protesten gegen Rechtsextremismus betrachten, die sind ein eigenständiges Phänomen.

Überrascht Sie das Ausmaß der Proteste gegen rechts?
Ich habe erwartet, dass die Mobilisierung durch das Erstarken der AfD allmählich zunehmen würde. Aber dass es so plötzlich und in einer solchen Dimension passiert, war nicht abzusehen. Was gerade passiert, ist historisch. Das ist schon jetzt die größte Protestwelle in der Geschichte der Bundesrepublik.

Dieter Rucht ist Protestforscher
Dieter Rucht ist Protestforscher. Seit Jahrzehnten beschäftigt er sich mit sozialen Bewegungen und politischer Mobilisierung. Der Soziologe arbeitete am Wissenschaftszentrum Berlin und als Professor an der Freien Universität Berlin. Rucht ist einer der Gründer des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung. Zuletzt forschte er unter anderem zur "Letzten Generation"
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Warum erleben wir sie ausgerechnet jetzt?
Das ist eine berechtigte Frage, weil die Recherche von "Correctiv" eigentlich nur bestätigt hat, was längst bekannt war. Höcke hat schon 2018 geschrieben, es brauche "ein groß angelegtes Remigrationsprojekt". Damals regte sich kaum Widerstand. Aber seitdem ist viel passiert. Es gab die Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte. Es gab die Attentate in Halle und Hanau. Es gab den Aufstieg der AfD in den Umfragen. Über Jahre hat sich in der Gesellschaft etwas angestaut, eine Sorge, ein Unbehagen, das kein Ventil gefunden hat, keine Ausdrucksform. Die Veröffentlichungen zu den rechten Geheimtreffen haben nun einen Knoten zum Platzen gebracht. Plötzlich treibt es auch die bürgerliche Mitte auf die Straße. Und die Proteste entfalten eine Eigendynamik, die ich so noch nicht erlebt habe.