"Die Schreckensnachricht von dem Geheimtreffen hat mich nicht überrascht", sagt Felix Ette, der vier Tage nach der Großdemo in Leipzig in seiner Altbauküche im Leipziger Stadtteil Altlindenau sitzt und einen Kräutertee trinkt. "Geheime Treffen von Politikern und obskuren Randgruppen: Damit hatte ich gerechnet. Aber die Inhalte haben mich dann doch schockiert." Das Vokabular, das dort benutzt wird, die Leidenschaft, mit der diskutiert wurde. "Sie haben Pläne für die große politische Bühne geschmiedet. Das fand ich extrem erschreckend, weil alles worüber sie gesprochen haben, im Kern dieses wahnsinnig verwerfliche faschistische Gedankengut trägt."
Er schüttelt den Kopf, kann nicht nachvollziehen, warum Menschen aus der Geschichte Deutschlands so wenig gelernt haben. "Wir haben in Deutschland zwei Weltkriege angefangen bis hin zur Perversion des Judenvernichtung. Deswegen hat Deutschland eine ganz besondere Verantwortung", sagt der Projektmanager, der im Bereich öffentliche IT und Verwaltungsdigitalisierung arbeitet.
Er war auch bei Pegida-Demos – auf der Gegenseite
Er ist kein typische Demogänger. Als Jugendlicher war er mal auf Demos, dann erst wieder als Pegida-Demonstranten durch die Leipziger Straßen zogen – in der Gegendemo. "Aber was dort in Potsdam passiert ist, hat nochmal eine ganz andere Qualität als die Pegida-Bewegung vor ein paar Jahren", sagt er. Pegida sei ein Sammelbecken von Menschen gewesen, die enttäuscht waren von staatlichen Strukturen oder wenig Perspektiven hatten. "Sie sind durch Falschinformationen, Verschwörungstheorien und einer selektiven Wahrnehmung von Informationen in völlig irrationale Ideenblasen abgedriftet." Sämtliche Prinzipien wissenschaftlichen Arbeitens seien dort untergraben wurden. "Wenn sich so etwas ausbreitet, wäre das ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft."
Heute sei die Gefahr noch größer, findet der Leipziger. "Eine Mehrheits-AfD in der Regierung oder als stärkste Kraft in den Landtagen würde zu einem absoluten politischen Stillstand führen", sagt Ette. Der Partei fehle es an Inhalten und Gestaltungswillen. "Sie haben weder das Personal noch die Ressourcen oder die intellektuelle Reife, außer Identitätspolitik irgendetwas strukturell umzusetzen." Auch ein valides Parteiprogramm fehle. "Die Schuld am politischen Stillstand würden sie natürlich den anderen zuschieben. So wie sie es immer machen." Sollte die AfD es jemals in die Regierung schaffen, so Ette, wäre die einzige Hoffnung, dass sich die AfD ein stückweit demokratisieren und mit anderen Parteien konsolidieren muss, um überhaupt mehrheitsfähige Beschlüsse treffen zu können. "Und dann nach einer Legislaturperiode wieder abgesägt wird."
Mit der ganzen Familie auf die Demo gegen Rechts
Damit es gar nicht erst so weit kommt und "ein deutliches Zeichen gegen den offenbar geplanten Faschismus zu setzen, den die AfD wieder massentauglich machen will", ist Ette am Sonntag demonstrieren gegangen. Über eine Online-Zeitung erfuhr er von der geplanten Demonstration auf dem Leipziger Markplatz. Seine Mutter, 73, war zufällig zu Besuch in der Stadt. "Sie ist ein Kind der 60er und schon auf vielen Demonstrationen gewesen: Für die Frauenbewegung, den Umweltschutz und gegen den Nato-Doppelbeschluss." Sie wollte sofort mitkommen. Auch seine Töchter, 6 und 10 Jahre alt, nahm er mit. Bedenken hatte er keine. "Wenn Kinder von klein auf eine Protestkultur erleben, unabhängig davon, ob sie es richtig einordnen können, ist das ein visuell erster starker Eindruck, den sie so schnell nicht vergessen."
Mit der Straßenbahn fuhr die Familie in die Leipziger Innenstadt. "Wir konnten erst die dritte Bahn nehmen, weil die anderen so voll waren." Ein gutes Gefühl sei es gewesen, so viele Menschen auf den Straßen zu sehen, Freunde und Fremde. Die eigene Ohnmacht werde dadurch ein bisschen geringer. "Zumal es bei diesem Protest nicht um Kürzungen, Lobbyinteressen oder Tarifverträge geht, sondern um die Menschen. Das hat für mich eine wesentlich größere Tragweite."
Hat er AfD-Wähler im Freundeskreis?
Natürlich gebe es auch andere wichtige Themen, für die man auf die Straßen gehen könnte, so der Familienvater. Der Umweltschutz beispielsweise. "Aber mich mit Fridays for Future hinzustellen und gegen so ein galaktisches Ziel wie die globale Erderwärmung zu protestieren, fühlt sich irgendwie sinnlos an." Zumal er in Sachen Umweltschutz selbst etwas tun und verändern kann. Den eigenen Konsum steuern, Müll reduzieren, Fernreisen überdenken. "Wenn ich protestiere, aber an meinem Verhalten nichts ändere, verweise ich die Verantwortung einfach nur an andere." Im Falle der AfD ist sein Handlungsspielraum allerdings begrenzt. Er geht zur Wahl, seit er wählen darf. Doch darauf, was andere auf dem Wahlzettel ankreuzen, hat er keinen Einfluss. Ob er AfD-Wähler in seinem Freundeskreis hat? Er glaubt nicht.
"In der Großstadt leben wir viel mehr in einer Blase als in einer kleinen Stadt oder auf dem Land." In den Kommunen gehe die AfD geschickt vor, in dem sie auf die Sorgen, Nöte und der Bedürfnisse der Menschen relativ unmittelbar eingehe. "Deswegen sind gerade die Kommunen so wichtig. Dort entstehen die Direktmandate für die Landesparlamente, die wiederum die Mandate für den Bundestag schreiben." Das Bottom-up-Prinzip würden viele vergessen. "Natürlich berichten Medien über den ersten AfD-Bürgermeister in einer Kommune. Dann wird eine Betroffenheitsrunde aufgemacht und von einem Warnschuss geredet." Aber es passiere wenig.

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"Umso mutiger ist es, dass jetzt dort in den Kleinstädten und AfD-Hochburgen die Menschen auf die Straße gehen." So entstehe ein Dialog zwischen den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt. Sorgen können geteilt, Lösungen gesucht werden. Die lokale Politik sei genauso am Zug wie die Bundespolitik. "Die Politikerinnen und Politiker müssen den Menschen endlich die irrationale Angst nehmen, dass ihnen etwas weggenommen wird und besser kommunizieren." Beispielsweise beim Thema Asylpolitik. "Die ist momentan schlecht geregelt und schlecht gesteuert. Aber natürlich hat Deutschland die Kapazitäten, die Menschen aufzunehmen und wir brauchen sie auch." Von Remigration zu reden, wie es die AfD tut, erinnert den Projektmanager an den Nationalsozialismus. "Dort hat es auch mit Rassegesetzen angefangen und endete im Völkermord."
Nur der Dialog hilft
Im Dialog stecke die Lösung. "Letztes Jahr zu Weihnachten gab es überall in den sozialen Medien Leitfäden, wie man politische Diskussionen unter dem Weihnachtsbaum verhindert. Das halte ich für einen Fehler." Ein Schwarz-Weiß-Denken helfe niemanden. Ganz nach dem Motto: Wer der eigenen politischen Idee nicht folgt, ist der Feind. "Das ist ein völlig falsches Grundverständnis von Demokratie." Nicht nur im Privaten auch in den Parlamenten müssten die Menschen in der Lage sein, andere Positionen auszuhalten. "Die Interessen der Wählerinnen und Wähler der AfD sind nicht automatisch unberechtigt, nur weil ich gegen die Partei bin." Auch hier helfe nur der Dialog. "Eine Brandmauer gegen Rechts ist auf politischer Ebene sinnvoll, miteinander reden muss man aber trotzdem."
Seine Teilnahme an der Demonstration habe bislang niemand kritisiert. "Obwohl ich mir das gewünscht hätte", sagt er, "dann hätte ich darüber diskutieren können. Aber dafür lebe ich wohl zu sehr in meiner Blase." Gelohnt habe sich die Teilnahme trotzdem. Er habe sich gut danach gefühlt, hoffnungsvoll. Und er würde wieder hingehen. "Bislang hat jede große Demonstration in der Geschichte Deutschlands Auswirkungen auf die politischen Entscheidungen gehabt", sagt Felix Ette. Die demokratischen Vertreterinnen und Vertreter seien schließlich Entsandte der Zivilgesellschaft. "Und die nehmen solche Impulse auf, wenn sie mehrheitsfähig sind." Davon ist der Leipziger überzeugt.
Ein Protestschild hatte er am Sonntag nicht dabei. Das hätten sie in der Eile nicht mehr geschafft, sagt er und lacht. "Vor mir stand jemand mit einem Schild, auf dem Stand: Ich bin so sauer, ich habe sogar ein Schild gemalt. Das hat mir gut gefallen."