Regelmäßig machen wir beim stern eine Blattkritik. Jede Woche sprechen wir darüber, was in der neuen Ausgabe gut und was nicht so gut gelungen ist. Immer wieder laden wir auch externe Kritiker ein, die uns offen ihre Meinung sagen.
Vor vielen Jahren, im Herbst 2004, hatten wir einen jungen russischen Kollegen zu Gast, der gerade die Journalistenschule absolviert hatte. Ich erinnere mich so genau, weil es eine der eindrücklichsten Blattkritiken war, die ich jemals erlebt habe.
Es war die Ausgabe nach dem Massaker von Beslan. Islamisten hatten in der ossetischen Stadt nahe der georgischen Grenze eine Schule überfallen und mehrere Hundert Schüler als Geisel genommen. Nach drei Tagen stürmten russische Sicherheitskräfte das Gelände, mehr als 330 Menschen kamen dabei um.
In fließendem Deutsch mit rollendem R sprach der junge Kollege über die ein oder andere Geschichte, fand diese gut, jene blöd, zu dem großen Bericht über Beslan äußerte er sich jedoch nicht. Bis er irgendwann innehielt und nach einer kurzen, intensiven Pause sagte (ich zitiere aus dem Kopf): "Sie schreiben hier über diese Schauspielerin, sie sei eine 'katastrophale' Besetzung. Und dort sagen Sie, die deutschen Straßen seien in einem 'katastrophalen Zustand'. Ich frage Sie: Wissen Sie, was eine 'Katastrophe' ist? Ich sage Ihnen: Beslan. Das ist eine 'Katastrophe'."
Alles ist jetzt gleich eine "Krise"
Ich habe diesen Moment nie vergessen. Denn wir alle waren ertappt. Dieser junge Russe hielt uns vor, die Risse im deutschen Asphalt mit dem Schicksal Hunderter toter Kinder in seiner Heimat gleichzusetzen. Und er hatte recht. Denn er hatte uns erwischt beim unbedachten Gebrauch eines Wortes, das einen klar definierten Sinn hat. Als "schweres Unglück, Naturereignis mit verheerenden Folgen" definiert der Duden "Katastrophe". Was hat das mit der nicht vorhandenen Mimik einer Schauspielerin zu tun?
Mir fiel diese kleine Episode wieder ein, weil jetzt überall bei uns von "Krise" die Rede ist. Von den hohen Spritpreisen, den steigenden Lebensmittelpreisen, den drohenden Nachzahlungen bei der Heizungsabrechnung. Beim Discounter kostet das Päckchen Butter statt 1,65 demnächst 2 Euro, das Pommes-Öl ist ausverkauft, und Robert Habeck schwört die Deutschen ein, dass wir "ärmer werden".
Ich will das wirklich nicht kleinreden. Ich weiß, dass es Millionen Menschen gibt, bei denen solche Preiserhöhungen ans Eingemachte gehen. Wir haben immer wieder über Armut in Deutschland berichtet. Es ist die unbedingte Aufgabe des Sozialstaats und des Gemeinwesens, hier zu helfen. Dass aber zum Beispiel die Tafeln, bei denen Menschen mit Lebensmitteln unterstützt werden, jetzt sinkende Spenden verzeichnen – bei wachsendem Zulauf, verweist auf das eigentliche Problem: Die, denen es noch gut geht, zittern um ihren Wohlstand und halten jetzt alles zusammen. Sie hätten ihren geplanten Wohnmobilurlaub in den USA absagen müssen, klagt ein Getränkehändler in einer Boulevardzeitung. Unabhängig davon, dass solches Sparen die angeschlagene Konjunktur erst so richtig abwürgt: Fühlt sich so "Krise" an?
Nebenwirkungen des Wohlstands
Das Sparguthaben der Deutschen beträgt nach Angaben der Bundesbank 2,96 Billionen Euro, mehr als 35.000 Euro pro Kopf. Im ersten Pandemiejahr haben die MüllerMeierSchulzes 182 Milliarden Euro zur Bank getragen, Rekord! Wie lange mag es dauern, bis sich bei solchem Reichtum eine echte Krise bemerkbar macht?
Eine unangenehme Nebenwirkung des Wohlstands ist die Angst davor, ihn wieder zu verlieren. Wächst der Wohlstand, nimmt auch sie proportional zu.
Das ist keine Entschuldigung, aber vielleicht eine Erklärung, falls uns der ein oder andere Ukrainer fragt, was genau wir mit "Krise" meinen.