Mit der Ausladung des Bundespräsidenten hat die ukrainische Regierung sich erlaubt, die Cancel Culture zu einer Maxime ihres Handelns zu erheben. Das ist mal etwas Neues: Eine demokratisch gewählte Staatsspitze hat für sich entschieden, wer genehm ist und wer nicht. Das kennt man sonst nur von Autokraten. Oder zumindest vom Umgang mit Autokraten. Unter Demokraten ist und bleibt die öffentliche Ablehnung des Dialogs ein Affront.
Putin reibt sich bei all dem die Hände
Dass sie damit ein Verfassungsorgan der Bundesrepublik öffentlich gedemütigt und beschädigt haben, scheint Präsident Selenskyj und seinen Berliner Botschafter nicht weiter zu kratzen. Ähnlichen Schaden richten sie mit ihrer selbstgefälligen Forderung an, die Deutschen im Allgemeinen und Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier im Besonderen sollten bitte ihre Russlandpolitik der vergangenen zwanzig Jahre aufarbeiten. Mich würde im Gegenzug eine Aufarbeitung der USA-Politik der Ukraine interessieren, unter besonderer Berücksichtigung der Geschäfte von, sagen wir, Hunter Biden.
Dass sich Wladimir Putin bei all dem die Hände reiben muss, weil es ihm ein weiteres Mal gelungen ist, einen Keil in eine westliche Demokratie zu treiben: In der Ukraine kümmert das niemanden. Man ist schließlich Opfer und damit anscheinend im Recht. Um nicht falsch verstanden zu werden: Natürlich ist die Ukraine Opfer einer nicht in Worte zu fassenden Aggression. Der grundlose Angriff Wladimir Putins, die Massaker der russischen Armee, die Brutalität dieses Krieges – es gibt überhaupt keinen Zweifel daran, wer hier Täter und wer Opfer ist. Die Ukraine erfährt unendliches, furchtbares Leid.
Ihr Krieg ist jetzt auch unser Krieg
Aber lässt sich der Westen deswegen derart von Selenskyj treiben? Denn da sind wir nun: In der Ukraine stehen angeblich nicht weniger als unsere Freiheit und der Fortbestand unserer Demokratie auf dem Spiel. Das ist den tapferen Männern in Kiew gelungen: dass aus ihrem Krieg nun auch unser Krieg zu werden droht oder schon geworden ist. Und so spricht niemand mehr davon, den Krieg durch Verhandlungen zu beenden. Sondern nur noch von dem einen neuen Ziel: Russland in der Ukraine zu besiegen.
Hier sei ein kurzes Gedankenspiel erlaubt: Was geschähe in Berlin, Warschau, Paris, Rom oder Washington, wenn Russland den Donbas besetzte und somit freien Zugang zur Krim und zum Asowschen Meer bekäme? Ich denke: nicht so viel. Wäre ein solcher "Sieg" Russlands das Ende des Westens? Würde Russland so gestärkt aus diesem Krieg hervorgehen, dass als Nächstes der Einmarsch im Baltikum oder in Polen anstünde? Ich denke: eher nein.
Im Moment sind Putins Truppen im Osten der Ukraine verkeilt. Die Großoffensive, mit der sie das Land innerhalb weniger Tage übernehmen wollten, ist gescheitert, die Armee geschwächt. Die kommenden Wochen werden zeigen, ob Putin überhaupt eines seiner Kriegsziele erreichen kann.

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Schwerere Waffen und die Lunte des Dritten Weltkriegs
Das Perfide an Putin jedoch bleibt: Er ist im Sieg genauso gefährlich wie in der Niederlage. Als Sieger, weil er, angetrieben von Allmachtfantasien, sein wahnsinniges Treiben fortsetzen und die Nato angreifen könnte. Als Verlierer, weil er gedemütigt auch zum vorletzten Mittel, dem Einsatz von taktischen Atomwaffen, greifen könnte.
Wir täten also gut daran, behutsam zu handeln. Und auf keinen Fall mit der Lieferung schwerer Waffen uns noch tiefer in den Sog dieses unberechenbaren Krieges ziehen zu lassen. Die Nato-Außengrenze verläuft nicht in der Ukraine. Wer das infrage stellt, legt die Lunte an einen Dritten Weltkrieg.