Etwas ist kaputtgegangen in Deutschland. Lange konnte man sich darauf einigen, dass manches einfach nicht geht, dass es Grenzen gibt, dass man bestimmte Dinge nicht sagt oder tut. Es war ein oberflächlicher und bequemer Konsens. Und dann schlug, für viele wie aus dem Nichts, dieses Video ein: Das Pfingstwochenende auf Sylt, junge Leute feiern in einem Nobelschuppen. Sie wollen die Elite von morgen sein, gebildet, erfolgreich, finanzstark. Zu den Klängen eines Partyhits rufen sie: "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!"
Wer an das Gute im Menschen glaubt, darf unterstellen, dass sie nicht wussten, was sie von sich gaben. Vielleicht hatten sie trotz der guten Schulen, die sie besuchen durften, keine Ahnung, dass die Geschichte der Parole "Deutschland den Deutschen" zurückreicht bis ins 19. Jahrhundert. Dass völkisch-antisemitische Verbände damit gegen Juden hetzten. Adolf Hitler beendete eine Rede auf einer Veranstaltung im Jahr 1920 mit den Worten: "Hinaus mit den Juden! Deutschland den Deutschen!"
In den 1990er-Jahren riefen Neonazis in der Bundesrepublik: "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus"; der Schlachtruf wurde zum Sound der Baseballschlägerjahre. Er schallte durch die Straßen, als Rechtsradikale in Rostock-Lichtenhagen ein Wohnheim für Vertragsarbeiter anzündeten und als ein Mob in Hoyerswerda Flüchtlinge durch die Gassen jagte. Die NPD druckte den Slogan auf ihre Wahlplakate.
Es war eine Parole der Extremisten und Ewiggestrigen, könnte man meinen. Doch sie ist wieder da. Nicht nur auf der Insel der Reichen, sondern im ganzen Land, in Diskotheken, bei Abifeiern und auf Schützenfesten. Es sind nicht Neonazis mit Springerstiefeln und Bomberjacke, die sie grölen. Es sind junge Leute, die so aussehen, wie man sich die viel zitierte Mitte der Gesellschaft vorstellt. Sie jauchzen womöglich unbedacht oder ironisch, vielleicht überzeugt vom Inhalt, vielleicht auch von der Annahme, dass das alles nicht ernst gemeint sei. Ein Scherz also, ein Trend, den man halt mitmacht, alles halb so wild.

Der missbrauchte Song, "L'Amour Toujours" des italienischen DJs Gigi D’Agostino, erschien Anfang der Nullerjahre. Der Refrain kommt ohne Text aus, seine Melodie ist so eingängig, dass viele sie mitsingen: Döp dödö döp. Vier Silben, so wie: Ausländer raus. Offenbar können einige Leute nicht genug davon bekommen oder sind neugierig geworden: Nach dem Vorfall in Sylt ging der Song erneut in die deutschen Charts. Auch in den sozialen Medien ist "L’Amour Toujours" allgegenwärtig, manchmal mit dem ausländerfeindlichen Text, manchmal ohne – es spielt mittlerweile keine Rolle mehr. In Deutschland dürfte heute fast jeder junge Mensch bei den Klängen von "L’Amour Toujours" auch an jene Zeilen denken, die sich ein ausländerfreies Deutschland herbeisehnen.
Rassismus als Partyfolklore, Naziparolen als Ohrwurm. Wie konnte es so weit kommen?