Die Hamas greift Israel an – zu Land, zu Wasser, aus der Luft. Wie haben Sie die letzten Tage erlebt?
Sehr besorgt, wie wohl alle. Meine Tochter ist Informatikerin, sie ist 39 Jahre alt und lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Israel. In der Nähe von Tel Aviv. Als es begann mit den Angriffen, habe ich natürlich sofort versucht, sie telefonisch zu erreichen. Zum Glück ist alles in Ordnung. Sie, ihr Mann und meine Enkelkinder sind in Sicherheit.
Hat Ihre Tochter Ihnen geschildert, wie die Stimmung in Israel jetzt ist?
Meine Tochter ist wütend, viele Menschen in Israel auch.
Wütend auf wen?
Auf Regierung und Militär. Wie konnte es passieren, dass man derartig von diesem Terror-Angriff überrascht wurde? Mir ergeht es ähnlich. Ich habe über den Jom-Kippur-Krieg 1973 meine Dissertation geschrieben. Das ist jetzt 50 Jahre her. Seither hört man immer wieder vom israelischen Militär: „So etwas wird nie wieder passieren.“ Jetzt ist es eben doch geschehen. Dieser Terror-Angriff ist furchtbar und durch nichts zu rechtfertigen. Aber die israelische Regierung hat eben auch die ganzen letzten Jahre nur nach einer politischen Verständigung mit den arabischen Nachbarstaaten gesucht, sie hat mit allen geredet – nur nicht mit den Palästinensern. Wir erleben also jetzt die Folgen eines doppelten Versagens, militärisch und politisch.
Sie haben auch viele Freunde und Bekannte in Israel. Sind Sie mit denen auch in Kontakt?
Ja, ich habe mit einigen gesprochen. Die Leute dort sind Krieg und Terror gewohnt. Aber 900 kaltblütig ermordete Menschen – das ist eine neue, traumatische Qualität. Die israelische Staatsräson lautete stets: „Wir sind der sichere Hafen für Juden aus aller Welt. Die letzte Rückversicherung. Kommt zu uns, wann immer Ihr bedroht seid. Hier seid ihr sicher.“ Diese Aussage ist nun erschüttert. Ich nehme an, dass es von israelischer Seite zu einer massiven Vergeltung kommen wird, weil die eigene Staatsräson auf dem Spiel steht.
In Berlin gingen arabischstämmige Menschen auf die Straße und feierten die Angriffe auf Israel.
Das ist bedrückend und widerwärtig. Dass man sich über den Mord an Menschen freuen kann. Dass man jubelt, wenn Zivilisten buchstäblich abgeschlachtet werden, in einer Weise, die noch unverschämter ist als die der Nazis. Wer das bejubelt, stellt sich außerhalb jeder humanen Gesellschaft.
Aufgrund des Holocaust ist die deutsche Politik eine moralische Verpflichtung eingegangen: Nie wieder sollen Juden in Deutschland Angst um ihr Leben haben. Müssen sie jetzt doch wieder Angst haben, weil der Krieg zwischen Hamas und Israel nach Deutschland „überspringt“?
Die Hamas wird versuchen, den Konflikt auf Europa auszuweiten, auch auf Deutschland. Es ist tragisch, dass die Palästinenser sich jetzt zum Büttel eines mörderischen Regimes machen.
Mit „mörderischem Regime“ meinen Sie den Iran?
Genau. Dieses Regime hat offen das Staatsziel ausgegeben: „Wir wollen Israel vernichten“. Auch Hitler hat 1939 offen die Vernichtung der Juden angekündigt.

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Es kommen seit Jahren viele Menschen aus arabischen Ländern als Flüchtlinge zu uns. Wenn jetzt einige von ihnen auf unseren Straßen tanzen, weil Juden sterben: Muss Deutschland seine Migrationspolitik überdenken?
Nicht jeder Araber ist Antisemit. Aber in vielen arabischen Ländern ist Judenhass seit 70 Jahren Staatspropaganda. Das wirkt auf die Menschen. Auch, wenn sie später zu uns nach Deutschland kommen. Es ist eine Schande, dass jede Synagoge in Deutschland ein Hochsicherheitstrakt ist, der von Polizei bewacht werden muss. Ich möchte in eine Synagoge gehen, ohne Angst haben zu müssen. So wie jeder Christ ohne Angst in seine Kirche gehen kann und jeder Muslim in seine Moschee.
Gibt es wachsenden Antisemitismus in der muslimischen Community in Deutschland?
Die Tendenz zum Antisemitismus ist nach den Zahlen des Bundesamtes für Verfassungsschutz und nach meiner Beobachtung klar ansteigend. Ich erwarte von den Vertretern des Islam in Deutschland, dass sie vor allem auf ihre Jugendlichen einwirken, sie zu Toleranz erziehen. Gerade junge Männer werden oft früh zum Judenhass aufgestachelt.
Was bedeutet das für die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung?
Karl Lagerfeld hat 2017 bezogen auf Angela Merkels Flüchtlingspolitik gesagt: „Selbst wenn Jahrzehnte dazwischen liegen, kann man nicht Millionen Juden töten und später dann Millionen ihrer schlimmsten Feinde holen." Ich mache mir diese Meinung ausdrücklich nicht zu eigen. Aber eine Regierung, die Menschen aus dem arabischen Kulturkreis willkommen heißt, hat in diesem Fall eine besondere Verantwortung für das Verhalten der Migranten zu tragen. Besonders für das, was sie anderen Menschen antun.
Was erwarten Sie von den Menschen aus arabischen Ländern, die zu uns kommen?
Was ich von jedem erwarte, der in unserem Land lebt oder hierherkommt: Dass er oder sie sich hier ohne Hass benimmt und niemandem schadet. Juden werden in Deutschland noch immer beleidigt, bespuckt, misshandelt. Jüdische Schüler werden von muslimischen Klassenkameraden vielfach drangsaliert. Es gab Demonstrationen, auf denen gerufen wurde: „Hamas, Hamas! Juden in Gas!“. Am Brandenburger Tor, inmitten Berlins. Aber auch woanders. Das muss ein Ende haben! Leute, die hierherkommen und so etwas sagen oder entsprechend handeln, haben hier nichts zu suchen. Auch aufgrund solcher Vorkommnisse kippt die Stimmung gegen jegliche Zuwanderung. Die Abneigung gegen Migration entsteht bei vielen aus Furcht. Nicht jeder, der Migration in großem Maßstab fürchtet, ist ein Nazi. Wenn jemand in die USA einwandert, ist es selbstverständlich, dass er oder sie die Regeln und Gesetze des Landes achtet. Das muss in Deutschland genauso sein.