Honorar von Extremismusforscher Hamburger Polizei verliert gegen den stern vor dem Verwaltungsgericht

Tatort des Amoklaufs am 9. März in Hamburg: Ein Haus mit Flachdach
Beim Amoklauf in Hamburg in einem Gebäude der Zeugen Jehovas am Abend des 9. März 2023 kam es zu mehreren Toten und Schwerverletzten
© Jonas Walzberg / Picture Alliance
Hamburgs Polizeipräsident Meyer wollte nicht verraten, was die Behörde dem Extremismusforscher Neumann zahlte, der das Buch des Amokläufers Philipp F. begutachtete. Das Verwaltungsgericht verpflichtete ihn nun dazu. 

Ein Honorar von 5200 Euro zahlte die Hamburger Polizei dem Extremismusforscher Peter Neumann, der den Auftrag bekam, das Buch von Amokläufer Philipp F. "zu beurteilen". Der stern musste vors Hamburger Verwaltungsgericht ziehen, um diese Auskunft zu bekommen (17 E 2400/23). Die Pressestelle der Hamburger Polizei hatte sich zunächst geweigert, der Redaktion die Summe zu nennen. Ohne Begründung. "Ich trete mit Ihnen jetzt nicht eine (rechtliche) Erörterung ein. Sie haben den Mailverlauf, aus dem hervorgeht, dass wir Ihre auf Grundlage des Pressegesetzes gestellte Frage nicht beantworten. Ihre Rechtsabteilung wird wissen, was zu tun ist“, bügelte Polizeisprecher Florian Abbenseth die Anfrage der Redaktion ab.

Zur Auskunft verpflichtet

Vor dem Hamburger Verwaltungsgericht verlor die Polizei den Prozess nun gegen den stern. Behörden seien "verpflichtet, den Vertretern der Presse … die der Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgabe dienenden Auskünfte zu erteilen", erinnerten die drei Richter der 17. Kammer die Hamburger Polizei an ihre Auskunftspflicht. Die Behörde hatte vor Gericht unter anderem argumentiert, die Höhe des Honorars sei ein Geschäftsgeheimnis. Außerdem hätte der stern "nicht plausibel dargelegt, dass die begehrte Auskunft der öffentlichen Aufgabe der Presse dient".

Damit kam die Polizei nicht durch. Die Presse müsse nicht darlegen, wofür sie Informationen brauche. "Von der Antragstellerin ist nicht zu verlangen, sich zur Begründung des presserechtlichen Auskunftsanspruchs dazu zu äußern, was sie mit der gewonnenen Information für die weitere Berichterstattung anstrebt, welche Schlüsse sie aus der Auskunft über die Höhe der Gutachterkosten ziehen will oder inwieweit die Auskunft aus ihrer Sicht ein überhaupt sinnvolles Faktum für die Beurteilung der polizeilichen Arbeit sein könnte." Die Entscheidung von Ende Juni ist inzwischen rechtskräftig. Zusätzlich zu dem Honorar von 5200 Euro muss die Polizei jetzt Anwalts- und Gerichtskosten zahlen.

Das wäre unnötig gewesen. Das Honorar scheint nicht überhöht. Aber die Hamburger Polizei braucht das Gutachten offenbar auch, um sich von dem Verdacht reinzuwaschen, im Vorfeld des Amoklaufs nicht gründlich ermittelt zu haben.

Warnung vor psychotischem Waffenträger

Es war eine denkwürdige Pressekonferenz, die Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) und Ralf Martin Meyer kurz nach dem Amoklauf am 9. März in Hamburg gaben. Sie mussten zugeben, dass die Polizei vor Philipp F. gewarnt worden war. Und konnten nicht recht erklären, warum die Polizei den Amoklauf trotzdem nicht verhindert hat. 

Ein naher Verwandter hatte der Waffenbehörde, die in Hamburg zur Polizei gehört, am 24. Januar 2023 geschrieben und gewarnt: Philipp F. sei psychisch auffällig, leide an einer Psychose, sei Sportschütze und habe Waffen, die er nicht haben sollte. Der Verwandte ahnte Schlimmes und sollte recht behalten. Sechs Wochen und zwei Tage nach der Warnung an die Behörden erschoss Philipp F. in einem Gemeindehaus der Zeugen Jehova zwei Frauen und vier Männer. Einer schwangeren Frau schoss er in den Bauch. Sie überlebte schwer verletzt, ihr Fötus, es war ein Mädchen, starb. Philipp F. erschoss sich selbst.

Auf seiner Website wies Philipp F. auch auf sein Buch hin. Der Titel: "The Truth About God, Jesus Christ and Satan." Philipp F. bezeichnet den Holocaust als "himmlischen Akt", der durch einen Streit zwischen Gott, Satan und Jesus ausgelöst worden sei. Auf der Pressekonferenz behauptete der Polizeipräsident, die Polizisten, die mit der Überprüfung von Philipp F. betraut worden seien, hätten das Buch bei der Google-Recherche nicht gefunden, ja nicht finden können, weil sich der Algorithmus geändert habe. "Das sind keine Recherche-Experten", sagte der Polizeipräsident über seine Beamten. Später musste die Polizei zugeben, dass die Beamten das Buch sehr wohl gefunden, es aber als irrelevant eingestuft und nicht bestellt oder für 9,99 Euro bei Amazon runtergeladen hatten. 

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Stichwort "Hitler" hätte gereicht

Die Polizisten hätten das Buch nicht einmal lesen müssen. Der Name "Hitler" im Suchfeld hätte gereicht, um auf die Passage zu stoßen, in der Philipp F. schreibt, dass der Holocaust ein "himmlischer Akt" gewesen sei, ausgelöst durch einen Streit zwischen Gott, Satan und Jesus. Auf der Pressekonferenz konfrontierte Johanna Wagner vom stern Meyer mit diesem Zitat. Der Polizeipräsident räumte ein: "Das wäre eine Grundlage gewesen, diesen Prozess anzustoßen, um die Waffe zu entziehen." 

Nach der Pressekonferenz griff Meyer zum Telefon. Er rief einen Journalisten an, fragte, welchen Gutachter er das Buch lesen lassen solle. Der Journalist empfahl den Politologen Peter Neumann. Er gehört laut "FAZ" zu den "meistzitierten Terrorismusforschern". Neumann studierte in Berlin Politologie, promovierte in Großbritannien, wo er am King's College London das "International Centre for the Study of Radicalisation" gründete.

Antidemokratische Passagen

Vier Tage lang beschäftigte sich Neumann mit dem Buch von Philipp F. Am 6. April berichtete er im Innenausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft. Das Buch enthalte Stellen, "die als antidemokratisch gelten können", sagte Neumann. Trotzdem sei er "nicht zu der Einschätzung gekommen", dass Philipp F. "als politischer Extremist" zu erkennen gewesen sei. "Rückschlüsse auf eine 'rechtsextreme Gesinnung'" seien für ihn "nicht erkennbar". Zwar bezeichne Philipp F. "Hitler als einen tollen Mann" und sehe den Holocaust als "himmlischen Akt". Das aber gehöre zu einer "religiöse[n] Theorie", erklärte Neumann den Abgeordneten.  Der "himmlische Akt" sei nicht als "wundervoller Akt" zu verstehen, sondern sei eben das "Ergebnis eines Disputs, der im Himmel stattgefunden" habe. Journalisten hätten den Fehler gemacht, "dass sie einzelne Sätze aus diesem Buch rausgegriffen" hätten "ohne das Buch als Gesamtes zu beurteilen". Philipp F. "hasst christliche Religionsgemeinschaften", im Buch sei aber "kein expliziter Aufruf zu Gewalt" formuliert. Es sei vielmehr "der geistige Erguss eines ziemlich religiös verwirrten Menschen". Philipp F. habe außerdem kein "geschlossenes extremistischen Weltbild" gehabt.

Relativierung von NS-Verbrechen

Auch andere Attentäter hätten kein geschlossenes Weltbild, entgegnete der Abgeordnete Kazim Abachi (SPD). Es sei doch antisemitisch, wenn Philipp F. behaupte, der Holocaust sei "nicht menschlich gemacht". Auch Deniz Celik (Die Linke) sah in der Passage  "eine Relativierung des Nationalsozialismus, der ungeheuerlichen Verbrechen und auch des Holocausts." Schließlich sehe Philipp F. die Verantwortung für den Judenmord "bei göttlichen Wesen". Das "empfinde ich schon als Relativierung der Verbrechen", sagte Celik.

"Es ist genauso richtig zu sagen, dass der Holocaust, so schrecklich das klingen mag, letztlich sekundär ist zu seinen religiösen Ideen", entgegnete Neumann.

Wann das Gutachten in Auftrag gegeben wurde und was es gekostet habe, hakte Celik nach. "Warum jetzt gerade Herr Neumann … Und wie viel wurde für das Gutachten ausgegeben?" Neumann sei ihm von einem Journalisten empfohlen worden, antwortete Martin Meyer. Auf die Frage, wie viel das Gutachten gekostet hatte, bekam Celik keine Antwort.

Sein Eindruck: "Ich hatte das Gefühl, dass viel geredet wurde, um wenig Fragen beantworten zu müssen. Diese Strategie ist aufgegangen."

Lesen Sie hier den Kommentar von stern-Reporterin Kerstin Herrnkind zur Vertuschung statt Fehlerkultur bei der Hamburger Polizei