Jagoda Marinić Die Piratenpartei

Christian Lindner dargestellt mit einer Augenklappe und einem Fernrohr
Die FDP hat den Freiheitsbegriff für sich alleine beansprucht und keilt gegen jeden aus, der eine eigene Meinung dazu hat
© Illustration: Lennart Gäbel; Foto: Gene Glover
Die FDP hat das Thema Freiheit gekapert und greift jeden an, der etwas abhaben will davon. Unsere Kolumnistin fühlt sich auf den Zeh getreten

Tatsächlich habe ich es gewagt, in meiner letzten Kolumne über die Freiheit zu schreiben. Darauf meldeten sich viele junge liberale Männer und teilten mit, Außenstehende wie ich hätten zum Thema Freiheit nichts beizutragen. Aha, da denken also Parteischnösel (ich habe mir deren Frisuren auf ihren Profilbildern angesehen): Nur weil ihre Partei die Freiheit im Namen trägt, seien sie Experten, und alles sei Parteisache.

Was Freiheit bedeutet bestimmt alleine die FDP

Mir war vorher nicht klar gewesen, dass Teile der FDP hier einen Alleinanspruch erheben, zumal ihre Partei derzeit aus vier Länderparlamenten geflogen ist und auch sonst gern vor der Fünfprozenthürde heftig zu klettern hat. Denken sie entsprechend, dass die anderen 95 Prozent nichts mit Freiheit am Hut haben oder dass die Freiheitsfragen untergegangen sind? Wahrscheinlich denken sie, sie müssten die Freiheit wiederbeleben. Vielleicht fangen sie bei sich selbst an, denn die großen Freiheitsfragen unserer Zeit erschöpfen sich eher nicht auf „Kein Tempolimit, yeah!“ Allein dass man beim Thema Klimaschutz so lange über das Tempolimit als solches redet, ist sinnbildlich dafür, wie tief die FDP derzeit fliegt.

Manchmal ist es schwer zu glauben, dass hier die politischen Erben eines Ralf Dahrendorf und einer Hildegard Hamm-Brücher versammelt sein sollen. Von Dahrendorf hörte man einst: „Zur Freiheit gehören die Krisen der Freiheit.“ Wir sind inmitten einer dieser großen Krisen, weil Demokratien weltweit angegriffen werden, weil Freiheit eben nie selbstverständlich ist und weil selbst jene, die an Demokratie glauben, stellenweise das Vertrauen in unsere Regierenden verlieren.

Bildungsgleichheit ist auch die Freiheit des Einzelnen

Eines der großen Freiheitsthemen war für Dahrendorf die Bildung: „Ohne Gleichheit der Bildungschancen ist die soziale Rolle des Staatsbürgers nicht durchgesetzt.“ Durch Bildung wird dem Einzelnen ermöglicht, mehr Verantwortung für die Gesellschaft zu tragen, in der er lebt. Diese Freiheit müsste eines der großen Themen unserer Zeit sein. Stattdessen beugen sich junge Liberale nach dem Twitter-Beef im Netz über meinen Wikipedia-Artikel und wollen meine Meinung diskreditieren, weil ich schon Dramen fürs Theater geschrieben habe.

Auf diese Form der Bildungsfeindlichkeit reagiere ich, als würde mir jemand auf dem großen Zeh stehen. Ohne den Anspruch auf Bildungsgerechtigkeit hätten Kinder aus ärmeren Familien so gut wie keine Chance auf einen Aufstieg; er ist schwer genug. Eine zeitgemäße FDP müsste für Bildungsgerechtigkeit stehen statt für Themen wie das Tempolimit. Welche Voraussetzungen schaffen wir, damit der Einzelne in diese Gesellschaft das Beste einbringen kann? Eine Antwort darauf wäre liberal.

Das Thema Freiheit gehört allen Parteien

Nach dem Ärger im Netz wurde mir noch klarer: Die Freiheit darf als Thema eben nicht von einer Partei gekapert oder bei einer Partei abgeladen werden. Die CDU, SPD, die Grünen – sie alle müssen ihre Positionen entlang der Freiheit überdenken. Es geht um Fragen wie die Autorität über Daten in Zeiten, in denen Konzerne und Städte von Big Data träumen. Es geht nach Corona auch um die Frage, wie ein Staat Gesundheitsschutz bieten kann, bei vollem Respekt vor unseren demokratischen Grundrechten.

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

Wollen Sie nichts mehr vom stern verpassen?

Persönlich, kompetent und unterhaltsam: Chefredakteur Gregor Peter Schmitz sendet Ihnen jeden Mittwoch in einem kostenlosen Newsletter die wichtigsten Inhalte aus der stern-Redaktion und ordnet ein, worüber Deutschland spricht. Hier geht es zur Registrierung.

Ich mache mich für die Freiheit des Individuums stark, weil ich oft den Eindruck habe, in Deutschland wird jenen misstraut, die eigen sind, sich nicht einordnen in das Kollektiv, das man irgendwie organisiert und gemaßregelt haben will. Eigensinnige wollen jedoch das Selbst-verständnis einer Gesellschaft durch Ungewöhnliches bereichern. Egoisten hingegen bereichern nur sich selbst – und ihre Klientel.