Sie wohnten im Erdgeschoss. Ich meine die Familie aus Kanada, sage ich zu meinem Vater, wenn ich mich an sie erinnere. Und mein Vater antwortet jedes Mal: Aber die Familie K. kam doch aus Peru oder war es Pakistan? Wir wohnten im ersten Stock, mein Vater und ich. Vier war ich, fünf, schließlich sechs Jahre alt. Abends, wenn Papa noch mal raus wollte, ins Kino oder zu einer Verabredung, sagte er: Hör mal, in ein paar Stunden bin ich zurück. Und wenn du Angst kriegst, gehst du runter ins Erdgeschoss zur Familie K., der habe ich Bescheid gesagt. Aber nur, wenn du Angst kriegst, okay?
Ich wartete, bis ich die Haustür zufallen hörte. Blickte durch einen Spalt im Vorhang. Da ging er, wippender Gang. Halblange Haare. Lederjacke. Mein schöner Vater. Ich zog meine Hausschuhe an, entschlossen, nicht auf die Angst zu warten. War ich bereit? Sobald ich unsere Wohnungstür zugezogen hatte, gab es kein Zurück mehr. Wenn Papa umdrehen würde, weil er beispielsweise etwas vergessen hatte, würde er mich im Hausflur treffen und mich fragen, ob ich wirklich so schnell Angst bekommen hatte. Ich hätte lügen müssen. Ich hatte noch keine Angst. Ich war nur allein, und das reichte vielleicht nicht, um meinen Ausflug ins Erdgeschoss zu rechtfertigen. Ich wartete ein paar Minuten, bevor ich unten klingelte.
Meist trugen meine Nachbarinnen Kleider
Eine der Frauen öffnete mir, es war die Mutter der drei erwachsenen Töchter. Meist trugen sie Kleider, das dunkle Haar hochgesteckt, an den Ohren und Händen funkelnden Schmuck. Sie rochen nach Parfüm, lachten und sprachen Englisch mit mir. So elegant wie Prinzessinnen waren sie, und ihr Apartment so opulent wie ein Schloss. Weiße Sofas, Marmortische, Lampen mit goldenen Sockeln. An den Wänden hingen Ölgemälde, in der Mitte des Wohnzimmers stand auf weißen Fliesen ein weißer Flügel. Manchmal spielte eine der Frauen. Leichte Musik, die ihr aus dem Seidenärmel fiel. Überhaupt wirkte das Leben in der großen Familie schwerelos, zu der auch Männer gehörten. Aber sie saßen nur herum in den blumenbemusterten Sesseln.
Im Gästezimmer stand ein Bett. Dicke Daune, weiß bezogen. In manchen Nächten wurde mir ein Comic hingelegt. Comics waren für mich eigentlich tabu, aber mein Vater war ja nicht da. Und so schaute ich und blätterte, schaute und blätterte, bis mir die Augen zufielen. In den Nächten, in denen ich erst klingelte, nachdem mich die Angst in mir hochgekrochen war, gab es, don’t cry, ein Bounty. Oder Gummibärchen. Hier gab es alles, ahnte ich, nur eben keine gemeinsame Sprache: Englisch verstand ich noch nicht. Einmal entdeckte ich auf dem Weg zum Bett einen in Papier geschlagenen Blumenstrauß unter dem Flügel. Ich zog ihn hervor, stolz, einen Schatz gehoben zu haben. Aber die Frauen schrien auf und liefen eilig auf mich zu. Der Strauß wurde wieder versteckt: Er hätte eine Überraschung sein sollen. Scham darüber, etwas falsch gemacht zu haben, auch wenn niemand schimpfte.
Wir sprachen nicht über solche Nächte
Am nächsten Morgen wachte ich in meinem Bett im zweiten Stock auf. Papa musste mich hochgetragen haben. Wir sprachen nicht über solche Nächte, in denen er wie ich Geheimnisse gesammelt hatten. Ich kann mich nicht daran erinnern, der großen Familie einmal tagsüber begegnet zu sein. Sie schien nur nachts zu existieren. Bald darauf sind wir ausgezogen. Auch die große Familie ist weg, ich habe es überprüft. Die weißgoldenen Lampen im Fenster fehlen, die geraffte Gardine, mein Schloss gegen die Angst. Ob wir uns verabschiedet haben, damals? Ich weiß es nicht mehr, sagt mein Vater.
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