Tür an Tür Was bedeutet noch mal gleich das Wort "Privatsphäre"?

Aufgezeichnet von Tobias Schmitz
Nachbarn: Illustration zeigt zwei Schwarz-Weiß-Türen nebeneinander auf farbigem Hintergrund
© stern-Montage: Adobe Stock
Für unsere neue Serie "Tür an Tür" haben wir Menschen gebeten, uns von ihren Erlebnissen mit den Nachbarn zu erzählen. Hier schreibt der Bewohner einer sehr hellhörigen Mietshauses über den Charme von Fürzen, Husten und Alexa.

Wir wohnen in einem Hamburger Altbau. Das Schöne an unserem Altbau ist der alte Holzboden. Und der Stuck an der Decke. Und die irgendwie "vintage" wirkenden leicht welligen Wände. Das Schlechte an unserem Altbau sind der dünne Boden, die dünnen Decken und die dünnen Wände. Eigentlich haben wir gar keine Wohnung. Eigentlich leben wir in einer großen Wohngemeinschaft. Mit den Nachbarn im Haus und denen im Nebenhaus.

Das Wort "Privatsphäre" muss lange nach dem Baujahr unseres Hauses erfunden worden sein, vermutlich von einem stocktauben Professor, der in irgendeiner Villa mit Garten lebte. Was bedeutet das Wort noch gleich?

Im Haus nebenan gibt es zum Beispiel Menschen, die wir nie wissentlich gesehen haben, die wir aber immer hören, wenn sie sich den Wonnen der körperlichen Liebe hingeben. Ohhh, denke ich da, und ahhhh, muss das schön sein, sich einfach selbstvergessen durch das Wochenende zu vögeln – ohne jede Scheu, Hemmung oder sonstige innere Begrenzung. Egal? Oder wissen diese Menschen einfach nicht, dass unser gemeinsamer Innenhof wie ein riesiger natürlicher Bluetooth-Lautsprecher wirkt und auch kleinste Schall- und Lustquellen ins Orgiastische verstärkt? 

Morgenfürze der Nachbarn – wir sind bei allem live dabei 

Aus demselben Grund wissen wir deshalb, dass ein Nachbar offenbar Probleme mit Auswurf hat.  Ob es eine chronische Bronchitis, eine genetisch bedingte Überproduktion von Rachenschleim oder nur ein ausgeprägter Tick ist – keine Ahnung. Jedenfalls werden wir, wenn wir uns mal wieder der Illusion hingegeben haben, ausschlafen zu können, gegen 6:30 Uhr von einem nicht lokalisierbaren entschlossenen Räuspern geweckt. Es folgt ein erstes beherztes Husten. Dann eine Art Knurren. Sofort danach erfolgt der Versuch, das im Mund Gesammelte mutig auszuspeien. Was offenbar immer wieder misslingt. Nächste Räuspern, Husten, Rotzen. Das kann gefühlt ein halbes Stündchen dauern. Ich bin aber immer nur kurz verärgert, denn es klingt fast wie Musik, wenn sich die eher basslastigen Hustenschleimlöserrotzlaute mit dem höher gestimmten Alt und Sopran des liebenden Paares verbinden.

Gern stehe ich dann auf und trage meinen Teil zur morgendlichen Symphonie Fantastique (Sorry, Hector Berlioz!) bei. Ich muss dafür nur die Toilette aufsuchen, deren Fenster ebenfalls zu Hof geht. Und mit einem herzerfrischenden Morgenfurz trage ich meinen Teil zur allgemeinen Wohlfühlatmosphäre bei. Das unüberhörbare Rauschen der Abwasserleitungen im hinteren Wohnungsteil verrät mir zudem überdeutlich: Hurra, auch andere Nachbarn verrichten gerade ihre Morgenroutine. We are family!

Apropos Familie: Früher dachten wir, jemand auf der anderen Seite der Wand würde sonntags eine Kreissäge benutzen. Bis wir verstanden, dass nur jemand sehr exaltiert lachte. Da schauderte es uns kurz und wir dachten: Wenn wir das so deutlich hören, was denken denn dann die anderen Nachbarn über uns? Auch wir sprechen nicht immer in Zimmerlautstärke miteinander. Hat schon jemand das Jugendamt eingeschaltet? Oder den paartherapeutischen Notdienst? 

Es müsste einen Notdienst für hellhörige Mietshäuser geben

Ein Notdienst wäre sowieso eine gute Idee. Die Familie unter uns nutzt einen „Echo Dot“ bzw. Alexa, dieses – wie wirklich nur manche Menschen sagen – sehr praktische Elektronikhelferding, das einem internetunterstützt sagen kann, wie das Wetter wird. Oder das auf Wunsch Ed Sheeran spielt. Wenn man das will.  Jeden Morgen hören wir jedenfalls, wann Alexa erwacht. Manchmal hängt Alexa sich auch auf – eigentlich schade, dass sie kein Mensch ist – und dann tönt der Einschaltverbindungsalexabegrüßungston wieder und wieder und wieder und wieder und wieder. Und wieder. Dann wissen wir: Die Nachbarn sind im Wochenendhäuschen. Verständlich, ist ja auch ruhiger da.

Hat sich Alexa beruhigt, spielt der Nachbar über uns Klavier. Das Gute ist: Er spielt sich von Bach bis Nirvana solide durch die Musikgeschichte. Auch gut: Er spielt auch Geige.
Nicht ganz so gut: Er wohnt nicht ein Stockwerk, sondern zwei Etagen über uns. Und wir können trotzdem mühelos beurteilen, wie ihm beim Andante das Pianissimo gelingt. Manchmal nicht so ganz. Wie muss das erst für die direkten Nachbarn klingen? Die geben sich sehr entspannt, geduldig und freundlich. Womöglich nicht uneigennützig: Die Nachbarin spielt Bass.

Wenn sich der Tag neigt, und sich die jungen Menschen im Nebenhaus auf der anderen Wandseite direkt neben unserem Sofa dem gemeinschaftlichen Trunke hingeben, dann stoße ich im Geiste ganz leise mit ihnen an und denke: Prost auch! Wie schön, dass es gerade mal wieder regnet. Denn sonst würdet ihr im Hinterhof auf dem Balkon sitzen, lachend, trinkend, Musik hörend. Das wäre – im Sommer auch mal bis morgens gegen 3:25 Uhr –  deutlich lauter. 

Neulich war ich über Nacht bei meiner Schwiegermutter auf dem Land. In den frühen Morgenstunden wachte ich auf und erschrak: War ich plötzlich taub geworden? Dann bemerkte ich meinen Irrtum: Es war einfach still.

Welche Erfahrungen haben Sie mit Ihren Nachbarn gemacht?
Schreiben Sie uns: nachbarn@stern.de

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