Eine zarte Kinderstimme ist im Saal 155 des Landgerichts Lübeck zu hören. "Ich glaube, es war ein Dienstag, und es war nachts. Ich habe ganz doll geschlafen." Das Publikum kann die Vernehmung des Jungen, die auf Video aufgezeichnet worden ist, hören, der Bildschirm aber ist umgedreht. Nur das Gericht, die Anwälte, Gutachter und der Angeklagte sehen das Kind.
"Ich weiß, dass es kein Traum war, weil mein Hund da war." Der Junge, damals acht, schildert, wie sein Vater ihn sexuell missbraucht habe. Wie er aufgewacht sei, sich wehrte, den Vater trat. Wie der sich auf seine Beine gesetzt, ihn festgehalten habe. Weitermachte, auch als er "Stopp" sagte.
Schräg gegenüber sitzt der Vater auf der Anklagebank. Ein bulliger Mann mit Brille. Als er sein Kind missbraucht haben soll, im März 2019, war er Staatsanwalt in Lübeck. Nun ist er selbst wegen eines Verbrechens angeklagt. Er weint, kurz. "Ich habe überhaupt nicht gesprochen", sagt das Kind. "Ich hatte ganz dolle Angst."
Der 52-jährige Jurist behauptet, er könne sich nicht an die Tat erinnern. Seine Psychiaterin hatte ihm eine Sexsomnia attestiert. Bei dieser Störung initiieren Betroffene Sex im Schlaf, ohne es zu merken. Dreimal stellte die Staatsanwaltschaft Kiel das Verfahren ein. Vier Jahre kämpften die Anwälte des Kindes, Lena Alpay Esch aus Lübeck und Wolf Molkentin aus Kiel, darum, den Staatsanwalt auf die Anklagebank zu bringen. Die Fachanwälte für Strafrecht zogen bis vors Oberlandesgericht Schleswig, das die Staatsanwaltschaft Kiel schließlich zwang, Anklage zu erheben. Der Verdacht steht im Raum, dass die Strafverfolger einen Kollegen geschont haben.