Im Kampf gegen Unterrichtsausfall wird auch digitaler Unterricht als Lösung diskutiert: Praktiker sehen in digitalen Formaten zwar Potenzial, jedoch kein Allheilmittel. Für den Vorsitzenden des Thüringer Lehrerverbands, Tim Reukauf, ist digitaler Unterricht für bestimmte Fächer und eher an höheren Klassenstufen am Gymnasium denkbar. "Die Schülerinnen und Schüler müssen eine gewisse Reife mitbringen", sagt Reukauf der Deutschen Presse-Agentur in Erfurt. Gymnasiasten bereite das auch schon für ein mögliches Studium vor, indem sie sich Inhalte verstärkt auch selbst aneigneten und sich selbst organisierten.
Nicht für alle Fächer, nicht für alle Schüler
Doch Reukauf sieht das Modell nicht auf alle Fächer übertragbar. "Ein Lehrer, der für Thüringen den Physikunterricht macht – das sehen wir eher schwierig", sagt er und nennt auch Mathematik oder Chemie als Fächer, in denen digitaler Unterricht nur schwer vorstellbar sei.
Während der Corona-Pandemie war digitaler Unterricht in Thüringen Alltag. Doch erste Projekte waren schon vor der Pandemie gestartet. Langjährige Erfahrungen gibt es mit "KathReliOnline" – digitaler, katholischer Religionsunterricht. Weite Teile Thüringens sind eher protestantisch geprägt – entsprechend wenige katholische Kinder und Jugendliche entscheiden sich für katholischen Religionsunterricht an den Schulen. Um mancherorts überhaupt katholischen Unterricht anbieten zu können, wurde der digitale katholische Religionsunterricht gestartet.
Treffen nur einmal im Halbjahr
Lehrerin Julia Günther unterrichtet in dem Format Schülerinnen und Schüler aus ganz Thüringen – persönlich trifft sie ihre Schützlinge nur etwa einmal im Halbjahr, um eine Klausur zu schreiben. "Die Schüler entscheiden sich bewusst, auch in diesem Format zu lernen, um diesen Unterricht haben zu können", sagt sie. Der Digitalunterricht werde nur dort angeboten, wo es sonst keine andere Möglichkeit gibt, katholischen Religionsunterricht anzubieten. "Aus meiner Sicht funktioniert es auch mit anderen Fächern, wenn Strukturen klar sind, wenn eine Kommunikationsmöglichkeit geschaffen ist", sagt sie.
Selbst Diskussionen etwa zu Tod und Sterben führt sie im digitalen Raum mit den Schülerinnen und Schülern, beispielsweise per Videokonferenz. "Ich habe da sehr gute Erfahrungen gemacht." In anderen Fächern seien aber mehr Präsenzformate nötig, räumt sie ein – etwa in Chemie, um Experimente durchzuführen.
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Änderung der Schulordnung geplant
Thüringens Bildungsministerium plant erneut eine Änderung der Schulordnung, um für mehr Rechtssicherheit beim digitalen Unterricht zu sorgen, teilte ein Sprecher auf Anfrage mit. Es gehe etwa um Aspekte des Datenschutzes und der Barrierefreiheit und um Standards für digitale Lern- und Schulverwaltungsumgebungen.
Außerdem sollen "Regelungen zur Stärkung des selbstorganisierten Lernens zur modernen Unterrichtsgestaltung" in die Schulordnung aufgenommen werden, "auch zur Ermöglichung des schul- und schulartübergreifenden (hybriden) Lernens". Hybrides Lernen sei etwa denkbar, wenn Schülerinnen und Schüler Kurse mit nur sehr wenigen Teilnehmern gewählt haben – so wie bei "KathReliOnline".
Digitaler Unterricht verursacht Arbeit
"In Zeiten von Lehrkräftemangel ist das ein Modell, wo man hinschaut: Könnte man das nicht in anderen Bereichen auch übernehmen?", sagt Reukauf, dessen Lehrerverband "KathReliOnline" begrüßt. Er sieht das Modell auch teils übertragbar auf andere Fächer – aber mit Einschränkungen.
Auch Günthers Ansicht nach hat digitaler Unterricht Grenzen. Er verursache auch viel Arbeit: Die Schüler müssten an die Tools herangeführt werden, auch Kompetenzen in der Selbstorganisation müssten geschult werden. Der größte Arbeitsaufwand für die Lehrerinnen und Lehrer sei es, geeignete Inhalte für den digitalen Unterricht zu erstellen.
Außerdem sei einzelnes Feedback nötig. "Auf jedes eingereichte Ergebnis aus der Selbstlernphase gebe ich eine Rückmeldung", sagt Günther. Im Präsenzunterricht vor der Klasse sei das anders, da reichten nach ein paar Beispielen oft auch allgemeine Hinweise an alle. "Damit wird schon deutlich: Ich kann nicht mit einer Lehrkraft auf Dauer 200 Lernende irgendwie glücklich machen", sagt sie.
Hinzu komme die persönliche Beziehung zwischen Lehrer und Schüler, die auch Reukauf wichtig findet. "Ich würde schon behaupten, dass ich mit jedem Schüler, auch wenn ich ihn nur einmal im Schuljahr live und in Farbe sehe, eine persönliche Beziehung habe, die ich mir aufgebaut habe. Das könnte ich aber nicht mit 300 Schülern so abbilden", sagt sie.