Frau Martin, "Machismo" ist ein Begriff, der im Zusammenhang mit der Rubiales-Debatte häufig verwendet wird. Ein Wort, das es so im Deutschen nicht gibt. Wie würden Sie den Kern der Problematik rund um die Geschehnisse in der spanischen Fußballwelt beschreiben?
Wenn wir von "Machismo" sprechen, meinen wir nicht nur die Männer – auch wenn es den Anschein macht. Wir sprechen von Einstellungen, die die Vorstellung aufrechterhalten, dass Männer und Frauen in der Gesellschaft getrennte Rollen haben. Dass wir aus diesen Schubladen nicht herauskommen können. Wir wissen, dass Ungleichheiten existieren und darauf beziehen wir uns, wenn wir "Machismo" sagen.
In deutschen Medien kommentieren User unter anderem zu dem Kuss-Vorfall: "Ach, da ist doch nichts dran. Das liegt doch an der spanischen Kultur, dass dort mehr geküsst und angefasst wird." Was sagen Sie zu solchen Reaktionen?
Ich denke, es stimmt, dass die mediterrane Kultur im Allgemeinen eine andere Art hat, sich auszudrücken. Ich arbeite in vielen verschiedenen Ländern, daher traue ich mir diese Einschätzung zu. Wenn ich beispielsweise in ein Flugzeug steige, um nach Deutschland oder nach Belgien, Luxemburg oder Dänemark zu fliegen, denke ich: "Hey, reiß dich zusammen! Denk daran, dass es andere Sitten gibt."
Ich versuche zurückhaltend zu sein und niemandem zu nahe zu treten. Mich an die Sitten anderer Länder anzupassen, scheint mir eine sinnvolle Grundregel des Respekts zu sein. Diese Grundregeln mögen in Spanien vielleicht einen etwas anderen Schwerpunkt haben, dennoch sind sie vorhanden. Und ich kann Ihnen versichern, dass Küsse auf den Mund, wie im Fall Rubiales geschehen, diese Regeln verletzen. Beispielsweise zwei Küsse auf die Wange aber – etwa zur Begrüßung – sind eher regelkonform und akzeptiert.
Millionen von Zuschauer:innen wurden also zu Augenzeugen eines sexuellen Übergriffs?
Ich habe das WM-Finale in einer Sporthalle verfolgt, zusammen mit vielen Menschen. Sein Fehlverhalten fiel allen dort direkt auf. Da waren viel zu enge Umarmungen zu sehen. Nichts an Rubiales' Auftreten während der Siegerehrung entsprach den Grundregeln des Respekts.
Grenzüberschreitungen, die man als Frau vielleicht schon einmal erlebt hat.

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Wir haben alle schon die Erfahrung gemacht, dass sich jemand in öffentlichen Verkehrsmitteln zu sehr an uns reibt. Und weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass uns der Körper eines anderen aufgezwungen wurde, ohne dass wir ihn gefragt haben, sind wir hier in Spanien aufgestanden und sind laut geworden. Wir sind auf Demos gegangen für Hermoso, weil wir uns in der Situation wiedererkannt haben.
Wenn wir es als Gesellschaft wagen, zu leugnen, dass dieser Kuss ein sexueller Übergriff vor einem Millionen-Publikum war: Welche Botschaft senden wir an alle Mädchen dieser Welt? Wir sagen ihnen, dass es normal ist, wenn ihr Chef kommt und sie küsst.

In den letzten 15 Jahren hat sie als Expertin für Medien, Konflikte und Menschenrechte mit verschiedenen Stadtverwaltungen und Fraueninstituten in Europa und Lateinamerika zusammengearbeitet.
Fußball-Größen wie Xavi und Xabi Alonso haben gesagt, dass sie Jennifer Hermoso unterstützen. Finden Sie, dass aus der männlichen Sportblase genug Unterstützung kommt?
Schwierig. Niemand hat die Pflicht, ein Held oder eine Heldin zu sein. Aber was mir auffällt: Wenn es homophobe oder rassistische Attacken gab, haben sie die Empörung geteilt, sie waren laut. Es ist nicht so, dass sie still blieben und sich zu diesen Vorfällen nicht geäußert haben. Und das stört mich.
Ich hätte mich gefreut, wenn sie sich geäußert hätten, weil normalerweise diejenigen, die ein inneres Machogehabe haben, sich nicht dafür interessieren, was wir Frauen sagen. Wir können schreien: „Bitte hört auf damit!“. Und sie werden es weiterhin tun, weil sie nicht einmal zuhören. Aber sie hören anderen Männern zu. Deshalb ist es so wichtig, dass vor allem die Männer laut werden und Support zeigen. Ich wünschte, wir bräuchten keine männlichen „Lautsprecher“, um gehört zu werden. Aber wenn diese da sind, erreicht die Botschaft Orte, die wir als Frauen nicht erreichen können. Und das ist die Schande: Dass sie die Botschaft nicht verbreiten.
Auf der anderen Seite gab es massiven Support in den Medien und auf den Straßen Spaniens. Unter anderem ausgelöst durch den Hashtag #seacabó (auf Deutsch: Es ist vorbei), der von der Nationalspielerin Alexia Putellas ins Leben gerufen wurde. Viele Medien vergleichen ihn sogar mit #metoo.
Ich denke, #metoo war dazu da, um zu sagen: "Das ist mir auch passiert, es ist aber vorbei". #Seacabó ist eher eine Kampfansage, nach dem Motto: "Ich werde es nicht mehr tolerieren". Ich habe diesen Hashtag an so vielen Orten in der ganzen Welt gesehen – auf Armbändern, Flaggen, Bannern. Es hat mich berührt. Die Bewegung #Seacabó stellt einen Wendepunkt dar.
Es gibt kein Zurück mehr. Mädchen, die diese Frauen als Vorbilder sehen, wissen jetzt, dass sie laut werden können und sagen können: "Es reicht!" Wenn wir alles hinter uns bringen können und endlich Schluss mit solchen Machtmissbräuchen ist, dann erst können wir sagen: Der Hashtag "Es ist vorbei" hat sich auch in der Gesellschaft durchgesetzt.
Was auch weltweit für Reaktionen sorgte: Der Hungerstreik der Mutter von Luis Rubiales, die sich in einer Kirche einsperrte – aus Protest. Sie kommen aus der gleichen Stadt wie die Familie Rubiales. Wie haben Sie reagiert?
Ich habe versucht, mich soweit es geht zurückzuhalten. Ich gebe oft Kommentare und Meinungen in den sozialen Netzwerken ab, aber ich wollte nicht in diesen Zirkus einsteigen, der medial ausgelöst wurde. Die ganzen Witze rund um die Familie Rubiales. Ich dachte wirklich: "In welchem Jahrhundert sind wir bitte? Was passiert gerade?"
Ich möchte nicht, dass meine Stadt, Motril, nur mit diesen Ereignissen in Verbindung gebracht wird. Es war ein Gefühl des Fremdschämens, das wir hier empfanden. Ich bin 53 Jahre alt und so etwas habe ich hier noch nicht erlebt
Was hat die Causa "Rubiales“ gezeigt?
Es gab weltweit Reaktionen, weil jeder verstanden hat, was passiert ist. Viele Frauen haben sich angeschlossen, sind auf Demos gegangen. Die Reaktionen auf den Fall Rubiales haben uns den Spiegel vorgehalten. Wir haben erkannt, dass sexuelle Übergriffe uns alle betreffen und dass wir laut werden müssen.
In Bezug auf Spanien hat der Fall vor allem gezeigt: Wir Frauen übertreiben immer, wenn wir unsere Rechte einfordern. Viele Menschen sahen etwas als natürlich an, was nicht normal ist, nämlich, dass ein Chef dich in der Öffentlichkeit ohne Einverständnis küsst. Eine Feier ist kein Grund für einen Chef, dich in irgendeinem Zusammenhang zu küssen.
Selbst wenn du „Ja“ sagst. Er dürfte dich gar nicht fragen, weil er dein Chef ist. Es ist Machtmissbrauch. Der Fall hat uns also sehr deutlich gemacht, dass die Arbeit des Feminismus sehr notwendig ist. Und auch gezeigt, dass „Machismo“ und „Anti-Feminismus“ zwei verschiedene Dinge sind.
Inwiefern?
Es ist eine Sache, diese normalisierte Einstellung zu haben. Und es ist eine andere Sache, diese Einstellung zu benutzen, um zu sagen, dass Feminismus und Frauenkämpfe unbequem sind. Wir haben auch die enge Verbindung gesehen zwischen "Machismo", Antifeminismus und einigen rechtsextremen Bewegungen, die sich diese Macho-Wut und diese antifeministische Wut zu eigen gemacht haben, um zu behaupten: "Der Feminismus ist schlecht, der Feminismus ist Schuld".
Das hat auch Rubiales selbst vom ersten Moment an gesagt in seiner Rede, die er vor den Verbandsmitgliedern hielt. Er sprach von "falschen Feminismus", der ihn zu Fall bringen will. Seine Rede hat einen konkreten Teil der Gesellschaft angesprochen – und davon ist er sich bewusst. Das ist ein Teil der Gesellschaft, der uns zu einer angsteinflößenden Vergangenheit dieses Landes zurückbringen will und der die Diktatur verteidigt, die wir 40 Jahre lang erlitten haben.
Das sind Menschen, die in privaten Foren, die öffentlich gemacht wurden, dazu aufgerufen haben, „aufzustehen“ und zu den Waffen zu greifen! Das ist krass. Es ist beängstigend. Der Fall Rubiales hat die Verbindung zwischen dem Antifeminismus und der extremen Rechten vollständig aufgedeckt. Das ist der positive Aspekt.
Und was ist der negative Aspekt?
Die Tatsache, dass sich in der Mitte der Debatte eine Frau befindet, die möglicherweise ihre Karriere beendet hat. Denn egal, wie viel Unterstützung wir ihr geben, egal wie viele Demonstrationen wir veranstalten: Diese Unterstützung kann nicht unbegrenzt über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden. Aber die Schikanen werden mit der Zeit weitergehen.
Die Unterstützungsbekundungen sind emotional, sie sind symbolisch, aber diese Frau wird weiterhin ihr reales Leben leben müssen. Sie ist Menschenmassen ausgesetzt. Und in diesen Menschenmassen sind Männer, die in einigen Foren sagen, dass wir zu den Waffen greifen müssen. Und wenn etwas passiert, wer wird dann die Verantwortung dafür übernehmen?
Wir alle vergessen: Mitten in dieser Debatte steht eigentlich ein Team, das den WM-Titel zum ersten Mal geholt hat. Für was, denkst du, werden die Fußballerinnen in Erinnerung bleiben?
Es ist leider erschütternd, was gerade mit Jennifer Hermoso und mit der Nationalmannschaft passiert. Sie sollten eigentlich die Weltmeisterschaft feiern, stattdessen gehen sie gerade durch die Hölle. Ich denke, man wird sich an sie erinnern, weil sie die Geschichte des Frauenfußballs verändert haben, aber wir werden vergessen, wie. Ich wünsche mir sehr, dass wir uns auf lange Sicht darauf konzentrieren, dass es für alle Frauen danach sicherer und einfacher war, Fußball zu spielen und sie generell einen leichteren Zugang zu dieser Sportart bekommen haben.