Liebe Frau Peirano,
es fühlt sich vielleicht an wie eine Kleinigkeit und ich weiß, dass anderen Frauen viel schlimmere Dinge passieren. Aber trotzdem lässt mich das nicht los, was vor zwei Wochen passiert ist.
Ich, 24, habe einen, wie ich dachte, guten Freund (Luka), zwischen uns gab es immer eine gewisse Anziehung. Ihm gehört ein Club, in den ich oft gehe. Aber ich bin in einer festen Beziehung und finde Fremdgehen nicht in Ordnung, mein Freund auch nicht. Mein Freund hat mir immer vertraut, aber er geht nicht gerne abends aus. Im Club waren immer noch Freunde und Freundinnen von mir dabei.
Vor zwei Wochen hat mich Luka dann im Club in eine stille Ecke gezogen und mich ziemlich heftig (mit Zunge) geküsst und mir gesagt: "Denk nicht an deinen Freund, denk nur an uns und an den Moment." Ich war ziemlich verwirrt und habe im ersten Moment mitgemacht, wohl weil ich nicht mehr ganz nüchtern war. Ich habe daran gedacht, was wäre, wenn Luka sauer auf mich ist und ich nicht mehr in den Club komme. Als Luka mir dann in die Bluse fassen wollte, habe ich ihn weggestoßen und bin nach Hause gefahren.
Ich war ziemlich aufgelöst. Zum Einen fühle ich mich schuldig meinem Freund gegenüber. Er hat volles Vertrauen mir gegenüber und lässt mir große Freiheiten, und dann passiert sowas! Aber ich fühle mich auch von Luka irgendwie benutzt. Wir haben oft über meinen Freund gesprochen und er hat immer gesagt, dass er das respektiert, obwohl er mehr Gefühle für mich hat. Und dann kommt er auf eine so billige Art an und drängt mir Küsse auf.
Ich habe erst einmal stundenlang geweint. Zum Glück war mein Freund nicht zu Hause, sodass ich mich erst mal beruhigen konnte. Ich habe Luka in der gleichen Nacht geschrieben und meinte, dass ich das respektlos fand, was er gemacht hat und dass ich das nicht wollte. Er hat ganz blöd zurückgeschrieben und meinte, dass er betrunken war und dass doch nichts passiert sei. Als ich dann noch mal zurückgeschrieben habe und meinte, dass ich verletzt und sauer bin, schrieb er: "Wie oft soll ich mich noch entschuldigen?"
Er hat sich überhaupt nicht entschuldigt!
Wir sind uns seitdem beim Feiern in einer Bar einmal über den Weg gelaufen und ich habe Abstand gehalten. Er schlich immer um mich herum und meinte zu mir, dass ich nicht auf ihn sauer sein soll. Ich weiß nicht, ob ich meinem Freund was davon erzählen soll. Es könnte sein, dass er dann verletzt ist und sich schlecht fühlt, wenn ich in Zukunft ohne ihn ausgehe. Und was mache ich mit Luka?
Was raten Sie mir?
Herzliche Grüße
Carla S.

Dr. Julia Peirano: Der geheime Code der Liebe
Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht, anschließend habe ich zwei Bücher über die Liebe geschrieben.
Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.
Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.
Liebe Carla S.,
ich kann gut verstehen, dass Sie verwirrt sind, denn das, was Luka mit Ihnen gemacht hat, ist kein kleiner Fauxpas oder wie Luka sagt: "nichts passiert". Strafrechtlich könnte man einen aufgezwungenen Kuss gegebenenfalls auch als sexuelle Nötigung betrachten. Vergleichen Sie Ihr Erlebnis doch einmal mit der prominenten Situation aus dem spanischen Frauenfußball. Der Präsident des spanischen Fußballverbands, Luis Rubiales, hat im vergangenen Sommer die Spielerin Jennifer Hermoso auf den Mund geküsst und damit einen gewaltigen Eklat ausgelöst. Letztendlich musste Rubiales von seinem Amt zurücktreten.
Viele Frauen stellen sich vor, dass sexuelle Nötigungen oder Vergewaltigungen aus heiterem Himmel und durch fremde Personen passieren, z.B. wenn eine Frau auf dem Nachhauseweg von einer fremden Person verfolgt und überfallen wird. Die Statistiken zeigen ein ganz anderes Bild: Sexuelle Belästigungen, Nötigungen und auch Vergewaltigungen passieren in den allermeisten Fällen im sozialen Umfeld. Die Täter sind Partner, Ex-Partner, Dating-Partner, Vorgesetzte, Kollegen, Lehrer usw.
Gerade weil Sie Vertrauen zu Luka hatten und es nicht haben kommen sehen, dass er die von Ihnen gesetzte Grenze überschreitet, waren Sie am Anfang erst einmal verwirrt und geschockt und konnten sich nicht angemessen wehren. Deshalb kommt es heute bei der Beurteilung, ob eine Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung gegeben ist, nicht auf ein ausdrückliches Einverständnis des Opfers an – vielmehr ist entscheidend, ob der Täter den entgegenstehenden Willen des Opfers erkennen konnte.*
Das Gleiche betrifft natürlich auch sexuelle Übergriffe wie in Ihrem Fall. Sie haben Luka kein Einverständnis dazu gegeben, dass er Sie küsst und unter Ihre Bluse fasst. Im Gegenteil: Sie haben Luka klar gesagt, dass Sie Ihrem Freund treu sein möchten und er hat es zumindest verbal akzeptiert.
Sie haben sich nach einer kurzen Zeit ja auch gefasst und sind aus der Situation geflüchtet. Und Sie haben sich hinterher schlecht und bedrängt gefühlt. Beides spricht dafür, dass die Situation kein einvernehmlicher "Ausrutscher" gewesen ist. Doch ob er aus Ihrem Hinweis Ihren entgegenstehenden Willen für einen Kuss ablesen konnte, ist fraglich.*
Ich möchte Ihnen keinesfalls die Verantwortung für das, was passiert geben. Die trägt Luka. Aber trotzdem würde ich Ihnen gerne eine Frage stellen: Stellen Sie sich vor, Sie wären älter und hätten eine 24-jährige Tochter. Was würden Sie ihr raten, wenn Sie in einer treuen Beziehung ist und mit einem Bekannten, mit dem es etwas knistert, in seinem Club ist und dabei viel Alkohol trinkt? Denken Sie in Ruhe über die Antwort auf diese Frage nach, und falls Sie sagen, dass Sie Ihrer Tochter raten würden, mit dem "Freund" nicht auszugehen oder zumindest nicht zu trinken, wäre das ja eine gute Vorsichtsmaßnahme für die Zukunft. Wichtig ist ja, dass Sie sicher sind und gut auf sich aufpassen.
Sie fragen, wie Sie sich Luka gegenüber verhalten sollen. Wie Sie sehen, hat Luka nicht nur eine sogenannte erste Verletzung verursacht, indem er Sie geküsst hat. Sondern er hat die Verletzung noch zu einer zweiten Verletzung eskaliert, indem er sich nicht entschuldigt hat, als Sie weggelaufen sind und ihm geschrieben haben, dass Sie sein Verhalten respektlos fanden.
Erste Verletzungen kann man in der Regel verzeihen. Zweite Verletzungen sind extrem problematisch, eine sogenannte red flag. Denn bis jetzt hat Luka nichts unternommen, um die Situation mit Ihnen wieder ins Reine zu bringen. Er hat Ihre Gefühle bagatellisiert, indem er sagte, es sei "nichts passiert" und dreht das Täter-Opfer-Gefüge um, indem er Sie fragt, wie oft er sich noch entschuldigen müsse. So, als wäre er das Opfer Ihrer andauernden Anklage. So verhält sich beim besten Willen kein Freund, und deshalb würde ich Ihnen empfehlen, den Kontakt zu ihm ganz abzubrechen.
Die nächste Frage ist, ob Sie Ihrem Freund jetzt noch davon erzählen sollten.
Falls Sie das Gefühl haben, dass Sie ihm einen "Betrug" beichten müssten, kann ich Sie entlasten. Sie wollten den Kuss nicht und Sie sind aus der Situation geflohen. Es ist eindeutig ein sexueller Übergriff, ggf. auch sexuelle Nötigung und kein einvernehmliches "Fremdknutschen". Was hätten Sie davon, Ihrem Freund davon zu erzählen? Wie würde er reagieren? Würde er sich Vorwürfe machen, dass er die rote Flagge übersehen hat? Würde er Ihnen Vorwürfe machen? Würde er sich weiter entspannt fühlen, wenn Sie ohne ihn ausgehen?
Wäre es vielleicht damit getan, dass Sie es ihm nicht erzählen, aber die Lehre daraus ziehen, besser auf sich aufzupassen? Spielen Sie die Möglichkeiten doch einmal durch.
Herzliche Grüße
Julia Peirano
*Die beiden markierten Absätze wurden nach einer anwaltlichen Beratung noch einmal korrigiert.