Golden Gate Bridge Die Brücke zwischen zwei Leben

  • von Nora Gantenbrink
An einem sonnigen Sonntag stehen sich zwei Männer auf der Golden Gate Bridge gegenüber. Der eine will sterben. Der andere will das verhindern. Für beide wird das Leben danach ein anderes sein.

Hier.

Am nördlichen Pfeiler, wo die Wellen krachend am Stahl brechen, der Wind pfeift und man bis nach Alcatraz schauen kann, an dieser Stelle wollte ein Mann sein Leben beenden und ein anderer das verhindern. Der Mann, der sterben wollte, heißt Kevin Berthia. Der Mann, der das verhindern wollte, heißt Kevin Briggs. Er ist heute zurückgekehrt auf die Brücke, an die Stelle, um davon zu erzählen. Er erinnert sich genau.

Der 11. März 2005. Briggs ist Polizist bei der Highway Patrol, zuständig für die Gegend um die Brücke. Er trägt eine beigefarbene Uniform und fährt Streife. Gegen Mittag bekommt er einen Anruf. Eine Frau habe sich bei der Polizei gemeldet. Die Frau sagte, ein Freund von ihr wolle sich umbringen. Sie beschrieb, wie er aussieht, wie alt er ist. Briggs soll den Mann finden. Er steigt auf sein Motorrad und rast los.

Nach etwa zehn Minuten sieht er ihn. Der Mann trägt ein weißes T-Shirt, kurze Hose, Turnschuhe. Briggs stoppt das Motorrad, nimmt den Helm ab und läuft auf ihn zu.

Der Mann klettert über die Brüstung. Daneben ist ein schmales Stahlrohr, ummantelte Kabel. Briggs wird übel. Er weiß: Je näher die Verzweifelten an den Absprung gelangen, desto schwieriger wird es für ihn, sie zurückzuholen. Briggs weiß auch: Wenn der Mann die 67 Meter den Abgrund herunterspringt, dauert es vier bis fünf Sekunden, bis sein Körper mit einer Geschwindigkeit von 120 Kilometer pro Stunde auf der Wasseroberfläche aufschlägt. Beim Aufprall werden seine Knochen zersplittern und die lebenswichtigen Organe durchbohren. Wenn er nicht direkt stirbt, dann im eiskalten Wasser. Briggs’ Herz schlägt schneller, er atmet durch und beschleunigt seinen Schritt.

Die Golden Gate Bridge ist eine Ikone. Erbaut von Joseph B. Strauss, einem deutschstämmigen Brückenbau-Ingenieur. Es gibt Menschen, die behaupten, sie sei nach der Freiheitsstatue das wichtigste Wahrzeichen Amerikas. Auf jeden Fall ist sie die meistbesuchte Hängebrücke der Welt. Ein roter Stahlgigant von unbestreitbarer Imposanz. Strauss selbst nannte seine Konstruktion eine "Harfe für die Himmelswinde" und versprach, dass sie ewig halten würde. Aber es gibt noch eine andere Wahrheit der Golden Gate Bridge, die Amerikaner nennen sie "The dark side of the bridge" , ihre dunkle Seite: Seit der Eröffnung 1937 haben sich mehr als 1600 Menschen von der Brücke gestürzt.

Nur wenige überlebten den Fall, und wenn, sprachen die Ärzte von einem Wunder. In amerikanischen Internetforen, in denen sich Suizidgefährdete austauschen, heißt es, der Sprung würde von allen Sorgen und Kummer befreien und die Seele reinigen. Die Golden Gate Bridge ist zu Fuß begehbar und die Brüstung niedrig. Joseph B. Strauss war ein kleiner Mann.

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Briggs kennt die dunkle Seite der Brücke und ihre Anziehungskraft. Er weiß auch, wie wichtig der erste Moment ist, wenn er einen Menschen retten will. Briggs ist ein besonnener Mann, seine Stimme klingt wie die des Sprechers, der alle Hörbücher deiner Kindheit gelesen hat. Briggs fragt: "Darf ich näher kommen?"

"Nein!"

Berthia ist wütend. Er weiß nicht, was er machen soll. Der Typ mit der schönen Stimme stört ihn. Er kann jetzt so einen nicht gebrauchen. Aber er hat so viele Gedanken im Kopf, die er loswerden will.

Er zögert. Briggs redet leise, er fragt, was denn genau passiert sei? Schließlich stehen sie sich beide gegenüber, Kopf an Kopf. Briggs mit den Autos im Rücken. Berthia mit dem Abgrund.
"Ich heiße übrigens Kevin!"

"Ich auch."

Berthia erzählt davon, dass er adoptiert wurde. Und dass er immer ein guter Vater sein wollte, weil er doch selbst keine leiblichen Eltern hatte, und dann sei alles schiefgelaufen. Seine Freundin wurde schwanger, er verlor seinen Job als Regaleinräumer. Das Baby kam zu früh auf die Welt, Intensivstation, Inkubator. Durch die Kündigung hatten Berthia und seine Freundin keine Versicherung, das Baby auch nicht. Man schickte ihnen eine Krankenhausrechnung über 200.000 Dollar. Die Freundin schrie, Kevin weinte. Weihnachten hatte er nicht mal genug Geld, um seiner Tochter ein Geschenk zu kaufen. Er, der alles richtig machen wollte, hat alles falsch gemacht.

Berthia redet und flucht und redet und flucht. Er ist 21 Jahre alt und fühlt sich, als habe er sein ganzes Leben schon in die Scheiße geritten.

Briggs flüstert: "Wenn dein Leben ein Buch ist, erlebst du heute vielleicht das dunkelste Kapitel. Schlägst du es jetzt zu, wirst du nie herausfinden, was du morgen machst. Du wirst nie herausfinden, was am Ende deines Buches steht." Briggs benutzt diesen Satz oft, wenn er merkt, dass jemand zögert. Berthia hält sich nicht fest, während er dort auf dem Stahlrohr an der Reling der Brücke steht. Nur der Wind drückt ihn von hinten an die Brüstung. Sein Kopf ist gesenkt. Weil ihm so kalt ist, schlingt er die Arme um sich. Er hört Briggs’ Stimme, das Kreischen der Möwen, das Rattern des Verkehrs, das Brechen der Wellen, das Tuten der Schiffe, das Pfeifen des Windes. Briggs erzählt ihm, dass er selbst auch Depressionen hatte, dass er sich auch schon mal umbringen wollte, aber heute die Dämonen in seinem Kopf im Griff hat.

Nach etwa eineinhalb Stunden fragt Briggs Berthia, ob er wieder auf die andere Seite kommen möchte. Berthia nickt. Gemeinsam mit einem Kollegen hilft der Polizist Berthia über die Brüstung. Schaulustige applaudieren. Nach der Rettung geht Briggs zurück in sein Büro, wechselt sein verschwitztes T-Shirt, jemand macht ihm Tee. Er weiß, dass er Kevin Berthia gerettet hat. Er schreibt seinen Bericht für die Akten. Er ist glücklich.

Ein Krankenwagen bringt Berthia zum Fremont Medical Center, man informiert seine Familie. 14 Tage bleibt er dort. Die Ärzte diagnostizieren Depressionen und eine Persönlichkeitsstörung. Berthia weiß jetzt: Er ist nicht verrückt, er ist krank.

150 Kilometer entfernt von der Stelle, an der Kevin Briggs Kevin Berthia vom Sterben abhielt, wohnt heute in einer kleinen Stadt namens Manteca ein Mann, der davon erzählen will, was seit der Rettung geschah. Seine Frau Aaron öffnet die Tür zum Apartment 17, sie sind in zweiter Ehe verheiratet. Auf dem Boden spielt ein kleiner Junge namens Carter mit einem GummiBasketball. Seine anderen zwei Kinder leben bei seiner ersten Frau. Auf der Couch sitzt Kevin Berthia.

Er höre jetzt, während er davon erzähle, wieder das Kreischen der Möwen, das Rattern des Verkehrs, das Brechen der Wellen, das Tuten der Schiffe, das Pfeifen des Windes. Er ist sofort wieder da. Seine Stimme wird schnell und schrill. Er redet wie im Rausch. Er ist jetzt wieder auf der Brücke. Er fühlt den Schmerz von damals, die Verzweiflung. Berthia ist ein Mann, der seine Seele aufreißen kann wie ein Löwe sein Maul.

Berthia wurde in Oakland geboren. Seine Mutter war 17, Kevin ein Versehen. Seine Adoptiveltern waren gute Menschen. Arbeiter. Sie hielten ihn für einen normalen Jungen, heute sagen sie, dass sie vielleicht die Merkmale übersehen haben, die man nur sehen kann, wenn man sich auskennt mit den Anzeichen psychischer Erkrankungen. Kevin war schon immer ein Grübler, sagen seine Adoptiveltern. Manchmal stellte er sich vor, dass es Kinder in Afrika gibt, die ohne Decke einschlafen müssen, das beschäftigte ihn tagelang. Die Melancholie ist ihm angeboren. Als seine Adoptiveltern sich scheiden ließen, glaubte er fest, er wäre der Grund. Er dachte: "Ich konnte noch nicht mal als Kind genügen." Was er fühlte, machte er meistens mit sich selbst aus.

Berthia sagt heute, er habe Briggs’ Uniform nicht gesehen: "Ich bin schwarz, ich stehe nicht auf weiße Polizisten. Hätte ich gewusst, dass Kevin ein Cop ist, ich hätte nicht mit ihm gesprochen. Er redet auch gar nicht wie ein Cop. Sondern wie ein echt korrekter Typ. Er ist viel menschlicher als alle Polizisten, die mir je in meinem Leben untergekommen sind."

Er hat etwas gelernt von dieser Rettung. Etwas, das ihm sein Leben in den USA nicht beibringen konnte: Schwarze und Weiße leiden beide unter Depressionen. Sie sind in diesem Leid gleich. Berthia nennt Briggs seinen Freund. Zwischen ihnen ist etwas erwachsen, das nur entstehen kann, wenn man gemeinsam etwas durchlitten hat. 2013 trafen sie sich erneut. Berthia war eingeladen worden nach New York. Zusammen mit Briggs sollte er dort über Suizid sprechen. Berthia war aufgeregt: Er war noch nie in New York, und er konnte Briggs wiederbegegnen. Sie standen voreinander, sahen sich an. Dann umarmten sie sich stumm. Die Brücke, sagt Briggs, verbindet nicht nur San Francisco und die Halbinsel Marin. Die Brücke, sagt Briggs, verbindet Menschen.

Briggs hat viele Menschen gerettet, aber nicht alle. Zwei sprangen, obwohl er bei ihnen war. Einer sagte zu ihm: "Kevin, du bist in Ordnung, aber ich muss gehen." Dann ließ er Briggs’ Hand los und sprang. Ein anderer hieß Jason, er war Anfang dreißig und extra von New Jersey hergeflogen. Briggs redete eine Stunde mit ihm. Dann fragte Jason den Polizisten, ob er die Geschichte der Büchse von Pandora kenne? Es ist eine Geschichte, überliefert aus der griechischen Mythologie. Sie handelt von Pandora, der laut der Sage ersten Frau, die auf der Welt lebte. Der griechische Gott Zeus reichte ihr eine Büchse. Die sollte Pandora an die Menschen weitergeben, aber ihnen verbieten, sie zu öffnen. Pandora selbst jedoch öffnete die Büchse. Darin waren Krankheiten, Tod und Übel und breiteten sich über die Menschheit aus. Das einzig Positive in der Büchse war die Hoffnung; bevor auch diese entweichen konnte, wurde die Büchse geschlossen. Jason fragte Briggs: "Stell dir vor, du öffnest die Büchse – und in ihr ist nichts? Noch nicht mal Hoffnung." Dann schwieg er, lehnte sich nach rechts. Und verschwand.

Wie kann man so etwas verarbeiten, Mr Briggs?

"Indem man einsieht, dass man es nie verarbeiten wird."

Sind Sie ein Held, Mr Briggs?

Er schüttelt den Kopf. Die Menschen, die nicht gesprungen sind, sagt er, das sind Helden.

Briggs schweigt jetzt eine Weile, dann sagt er, wenn es ganz still ist, dann könne man auf der Brücke sogar die Seelöwen brüllen hören. Aber an diesem Tag vermischt sich das Tuten der vorbeifahrenden Schiffe nur mit dem Motorenlärm der Autos und Lastwagen. Er zeigt auf zwei kleine Schiffe und sagt: "Das ist die Küstenwache. Wenn einer springt, fischen die Jungs die Leichen aus dem Wasser."

Briggs möchte jetzt gern das Thema wechseln, lieber über den Umgang der USA mit psychisch Kranken reden, den er "eine Katastrophe" nennt. Manchmal, sagt er, ist ihm dieses Land fremd, in dem er lebt. Dann wundert er sich darüber, dass Amerikaner eher einen Übergewichtigen akzeptieren als jemanden, der psychisch krank ist. Kevin Briggs sagt, die meisten suizidgefährdeten Menschen begehen keinen Selbstmord.

Sie sterben.

Briggs, heute 50, leidet selbst seit Jahren unter Depressionen und behandelt sie mit Antidepressiva. Jeden, den er rettete, fragte er: "Warum bist du zurückgekommen?" Auch Kevin Berthia. Die meisten antworteten: "Weil du mir zugehört hast."

Briggs bekam nie ein spezielles Training, keine psychologische Ausbildung. Bevor er als Highway-Polizist arbeitete, war er bei der Army. Alles, was er kann, haben ihm Herz und Verstand beigebracht. Aber er spürt: Je mehr Menschen er rettet, desto weniger leidet er selbst.

Die Lokalzeitungen schrieben über ihn, er bekam Einladungen zum Thema: "Suizid-Prävention". Er freute sich darüber. Seinen Vorgesetzten gefiel Briggs’ neuer Ruhm nicht. Sie stellten ihn vor eine Entscheidung. Polizist oder Aktivist. Wenn Briggs sich heute daran erinnert, sieht man, wie Enttäuschung sein Gesicht verzieht. Er hat diesen Job geliebt. Er reichte die Kündigung ein und gründete eine Firma. Er nannte sie Pivotal Points, Wendepunkte.

Suizide verhindern, sogar noch mehr: Menschen weltweit darin schulen, Selbstmorde zu verhindern, genau das wollte er tun. Nachts träumt er davon, dass ein Jahr vergeht und kein Mensch von der Brücke springt.

Vor zwei Jahren wird Briggs zu einem TED-Talk eingeladen. So nennt sich eine kalifornische Innovationskonferenz, die Menschen immer 15 Minuten lang zu einem Thema reden lässt. Der TED-Talk machte den Polizisten berühmt. Briggs’ besonnene Art, seine Stimme und das Thema, über das kaum einer etwas wusste. Das Video wurde mittlerweile über zwei Millionen Mal angesehen. Heute reist er durch die ganze Welt. Spricht vor Studenten, Kriegsveteranen, Managern.

Briggs kann nicht mehr aufhören, andere zu retten, denn dadurch rettet er auch sich. Manchmal sitzt er in seinem Haus, etwa 35 Minuten nördlich von der Brücke entfernt, und denkt an die zwei Männer, die er nicht zurück ins Leben holen konnte.

Und an einen anderen Mann denkt er oft. Er heißt Robin Williams und fuhr manchmal mit seinem Rennrad auf der Brücke an Kevin Briggs vorbei. Briggs verehrt Williams, besonders als verkleidete Haushälterin in "Mrs. Doubtfire". Manchmal haben er und Robin Williams sich gegrüßt. Williams auf dem Rad, Briggs an sein Motorrad gelehnt. Vor zwei Jahren nahm sich der Hollywoodschauspieler das Leben. Er litt an einer Erkrankung namens Lewy-Körperchen-Demenz, er hatte Depressionen. All das erfuhr Briggs aus der Zeitung. Gelegentlich erwischt er sich dabei, wie er sich fragt, ob er hätte helfen können, wenn er mit Williams gesprochen hätte. Hat er versagt?

Kevin Berthia nimmt jeden Tag noch fünf Milligramm Celexa, ein gängiges Antidepressivum, damit er nicht wieder anfängt zu grübeln. Gerade passiert so viel in der Welt, was ihn runterziehen kann, gerät er in eine Gedankenspirale. Die Flüchtlinge, der Terror. Tagsüber passt er auf die Söhne auf, solange seine Frau Aaron arbeitet, isst mit ihnen zu Abend und fährt nach Sacramento zur Nachtschicht ins Versandlager.

Wenn er im Auto auf dem Weg zurück nach Manteca sitzt, geht meistens schon die Sonne auf. Er dreht dann das Radio laut, hört ein bisschen Rapmusik. Manchmal, sagt er, denke er in solchen Momenten darüber nach, was passiert wäre, wenn er nicht Kevin Briggs begegnet wäre an diesem Tag im März vor elf Jahren.

Dann hätten seine Kinder keinen Vater mehr, Carter wäre nie geboren worden, und Kevin Berthia wäre ein Mensch, der an der dunkelsten Stelle seines Lebens in der Dunkelheit verschwunden wäre.