Noch so viele Ex-Generäle, Militärhistoriker und Strategieexperten können mir erzählen, dass Putin zu geschwächt sei, um einen Dritten Weltkrieg zu beginnen. So viel Fachwissen, überall. Wow! Vorher hatten diese Kenner erklärt, warum ein Angriff auf die Ukraine für Putin sinnlos wäre. Oder dass ein solcher Schlag nach wenigen Tagen vorbei sei, denn die Ukraine hätte den Russen nichts entgegenzusetzen. Gerade mal "zehn Sekunden" würden deutsche Waffenlieferungen einen Krieg mit Russland verlängern, sagte mir jemand, der in Berlin eng mit dem Thema befasst war.
Nachtreten ist zwecklos. Niemand hat die Zeitenwende kommen sehen. Aber woher nehmen all die Professoren, Politiker und Ex-Nato-Chefs noch immer das Selbstbewusstsein, jetzt zu wissen, was als Nächstes passiert? Warum muss erst Jürgen Habermas, der Nestor bundesrepublikanischer Klugheit, sagen: Allein Putin hat hier die Deutungsmacht. Er allein entscheidet, wie dieser Krieg weiter verlaufen wird. Indem er westliche Staaten zur Kriegspartei erklärt – oder auch nicht. Indem er taktische Atomwaffen zündet – oder auch nicht. Indem er den Krieg für beendet erklärt – oder auch nicht. Was davon am wahrscheinlichsten ist? Viele Experten hätten darauf eine wortreiche Antwort. Ich habe keine.
Keine Antworten, aber Angst
Aber – und Friedrich Merz möge es mir nachsehen – ich habe Angst. Ein Gefühl, das mir nicht gefällt. Weil es irrational ist und ich es nicht unter Kontrolle bekomme. Dieser unbeirrbare Kriegs- und Rüstungseifer, insbesondere ehemaliger Friedensbewegter, führt, so fürchte ich, nicht aus der Katastrophe heraus, sondern mitten in sie hinein.
Ich bin 1968 geboren, groß geworden in den 70er- und 80er-Jahren. Der Nato-Doppelbeschluss ist eine meiner ersten politischen Erfahrungen, ich erinnere sehr lebendig die Fernsehbilder von den Menschenmassen 1981 im Bonner Hofgarten. Die atomare Bedrohung durch die Sowjetunion war immer irgendwie da, genau wie die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Wir sprachen in der Schule darüber und in der Familie, in der meine Oma bei Kaffee und Kuchen Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg erzählte, die belegen sollten, dass "dem Russen" nicht zu trauen sei. Im Fernsehen lief die Serie "Damals vor 40 Jahren" und zeigte die Schlachten der Weltkatastrophe, im Kino erzählte der Film "Wenn der Wind weht" vom Atomkrieg, und sehr lebendig erinnere ich, wie der Boden vibrierte, als während eines großen Nato-Manövers Panzer durch meine Heimatstadt dröhnten.
All das ist auf einmal wieder da: die Sorge, dass unser Leben davon abhängt, ob jemand eine Rakete zündet. Wie groß war die Erleichterung, als Michail Gorbatschow endlich Entspannung brachte. Und der 9. November 1989 all die schrecklichen Szenarien ad acta legte. (Ein Trugschluss, wie sich jetzt zeigt.)
Wladimir Putin hat immer noch den Finger am Atomknopf
Robert Habeck hat in einem Video eindrücklich von seinem Besuch in Mariupol vor einem Jahr erzählt. Wie er morgens um halb sieben ans Asowsche Meer gegangen ist, "hellblaues Wasser", welche Menschen er getroffen hat, die Angler, den Kellner: "Ob er wohl noch lebt?"
Mit dieser sympathischen Erinnerung begründet der Vizekanzler nun sein Votum, jetzt auch schwere Waffen in die Ukraine zu schicken. Und ich frage mich: Was wäre gewesen, wenn er vor ein paar Jahren nach Aleppo gereist wäre? Oder nach Sanaa, in den Jemen? Dort hätte er auch den einen oder anderen Kellner getroffen. Hätte er dann auch Panzer geschickt?
Aus dem Ukrainekrieg ist der Kampf der Freiheit gegen die Unterdrückung geworden. Diese Erzählung beherrscht derzeit alles, sie lähmt bei vielen den Verstand. All die Experten vernachlässigen offensichtlich, dass auf der anderen Seite jemand den Finger am Atomknopf hat. Im Kalten Krieg war immer klar, dass damit andere Regeln gelten. Aber heute?