Frau Schreiner-Hirsch, das Hochfest des Friedens und der Gemütlichkeit naht. Warum darf an Weihnachten eigentlich nicht gestritten werden?
Wo steht das geschrieben? Aber ich verstehe, was Sie meinen: Das Fest ist oft mit riesigen Erwartungen überfrachtet. Alle sind beisammen, alle sollen in guter Stimmung sein. Vielleicht haben die Menschen eine Art Idealbild von Weihnachten im Kopf, das auch medial vermittelt wird: lauter glückliche Gesichter am festlich gedeckten Tisch – die reine Harmonie. Da will niemand verantwortlich für schlechte Stimmung oder Streit sein.
Dabei sind viele Menschen gerade an Weihnachten besonders angespannt. Warum eigentlich?
Eben weil die Erwartungen so groß und die Vorstellungen so konkret sind, wie Weihnachten zu laufen hat, setzt das auch viele Menschen unter Druck. Wir alle bringen ja Rituale und Traditionen aus unseren Ursprungsfamilien mit, und daran hängen wir unter Umständen extrem. Diese müssen in der neuen Familie oder als Paar neu ausgehandelt werden. Das ist nicht immer einfach, wenn jede oder jeder auf ihre oder seine Rituale beharrt. Es soll ja ein ganz besonderer Tag für alle sein.
Und das stresst.
Ja, es gibt eine lange Liste von Dingen, die Stress erzeugen können und großes Konfliktpotenzial bieten: Der Baum muss passen, die Deko muss stimmen, das Essen schmecken. Dazu der Tischschmuck und natürlich die richtigen Geschenke. Plus: Wann feiern wir überhaupt und wo? Wer kommt? Was zieht man an? Geht jemand in die Kirche? Und so weiter.
Wir bleiben immer Kinder unserer Eltern
Das könnte man alles erwachsen regeln, oder?
Ja, aber wir bleiben immer Kinder unserer Eltern. Und Paare befinden sich im Zwiespalt der Erwartungen, Vorstellungen und Forderungen von Partnerin oder Partner und Herkunftsfamilie.
Was wäre die Lösung?
Wenn Familien häufiger konstruktiv und fair miteinander Konflikte klären könnten, würde das gerade an Weihnachten viel Druck vom Kessel nehmen. Es sollte im Vorfeld, lange vor Weihnachten, besprochen werden, wie das Fest eigentlich aussehen soll.
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Was könnten hilfreiche Leitfragen sein?
Wie wichtig ist uns Weihnachten eigentlich?
Welche Bedeutung geben wir diesem einen Tag im Jahr – und ist es das wert?
Welche Rituale und Traditionen gibt es bei mir und welche bei dir?
Welche Rituale und Traditionen aus unseren Herkunftsfamilien wollen wir übernehmen und welche eigenen, neuen möchten wir entwickeln?
Was sind wirklich unsere Wünsche – und wo versuchen wir nur den Erwartungen der Eltern gerecht zu werden?
Um wen geht es hier also?
Wen glauben wir, glücklich machen zu müssen?
Können wir ganz entspannt die Wünsche erfüllen, die unsere Eltern an das Fest haben, weil es uns selbst gar nicht so wichtig ist?
Trauen wir uns, klar Grenzen zu setzen und unsere Wünsche zu formulieren?
Was hindert uns daran?
Zur Person
Alexandra Schreiner-Hirsch, 57, ist Diplom-Sozialpädagogin und staatlich anerkannte Erzieherin. Sie bietet Bildungs- und Trainingsangebote für Fachkräfte und Erziehende an. Ihre Schwerpunkte sind dabei die Kommunikation in Beruf, Erziehung und Partnerschaft. Schreiner-Hirsch hat zwei erwachsene Söhne und lebt in München
Wie viel Streit braucht eine Familie?
Das lässt sich pauschal nicht sagen. Aber feststeht: Gutes Streiten ist gesund. Weil einfach alle Familienmitglieder, aber natürlich besonders die Kinder, ganz viel darüber lernen können, wie das Leben funktioniert.
Wie funktioniert das Leben denn?
Menschen wollen unterschiedliche Dinge. Sie haben verschiedene Wünsche, Vorstellungen, Bedürfnisse. Die Nichteinigkeit ist nichts Schlimmes, sie ist Teil unseres Lebens als soziale Wesen, die aufeinander angewiesen sind. Das ist ja Alltag im Leben von Familien, aber auch in jeder anderen Einrichtung. In der Kita, in der Schule, später dann auch im Berufsleben. Deswegen ist Streiten eine grundlegende Fähigkeit, die Kinder unbedingt lernen sollten.
Konflikte innerhalb der Familie lösen zu können, ist die Grundlage unserer Demokratie
Ich habe oft den Eindruck, dass es auch Erwachsenen an einer guten Streitkultur fehlt.
Ja, das sehe ich auch so. Vielleicht, weil sie es als Kinder nie gelernt haben? Meist haben wir gelernt oder leidvoll erfahren, dass beim Streiten jemand gewinnt und jemand verliert. Das ist unangenehm und tut weh, also vermeide ich Streit lieber oder versuche, um jeden Preis zu gewinnen. Dabei ist die Fähigkeit, Konflikte innerhalb der Familie lösen zu können, für mich die Grundlage für eine friedliche und demokratisch lebende Gesellschaft.
Haben wir das Streiten verlernt?
Den Eindruck kann man gewinnen, ja. Wobei ich eher sagen würde: Wir haben das konstruktive Streiten verlernt.
Woran liegt das?
Eine große Rolle spielen für mich die sozialen Medien. Da werden sekündlich immer neue Meinungen reingespült. Es wird gesendet und gepostet, aber immer nur in eine Richtung. Ein wirklicher Austausch kommt nicht mehr zustande. Und der Algorithmus zeigt mir immer mehr von dem, was ich schon zu wissen und meinen glaube.
Vielleicht denke ich dann irgendwann: Das, was ich da sehe, ist die Wahrheit. Ich werde innerhalb meiner Blase immer wieder bestätigt in meinen Meinungen. Das sah man gut in der Coronakrise. Jeder beharrte auf seinem Standpunkt, glaubte diesen belegen zu können und machte zu, wenn er mit anderen Standpunkten konfrontiert wurde. Es geht aber auch noch um etwas anderes.
Und zwar?
Um die Frage, ob ich überhaupt ein Interesse habe, mich im Streit ernsthaft mit der Meinung anderer auseinanderzusetzen. Das kann anstrengend sein. Ich merke in meinen Elternkursen immer wieder, wie belastet Familien in der heutigen Zeit sind. Die meisten Eltern sind heute beide voll berufstätig. Es gibt einen gesellschaftlichen Anspruch und eine Erwartung, wie man als Mutter, Vater, Frau, Mann, Tochter, Sohn zu sein hat, wie der Haushalt zu sein hat, was man im Leben erreicht haben muss. Und unter anderem auch: wie Weihnachten zu sein hat.
Das setzt viele unter Druck, sodass die Zeit für ein "entspanntes Streiten" oder eine konstruktive Auseinandersetzung gar nicht mehr da ist. Beides kostet Energie und kann emotional natürlich auch anstrengend sein. Ich muss mitdenken, ich muss Argumente finden, ich brauche Empathie. All das kostet Zeit. Dabei wäre es wichtig, das zu üben. Stattdessen heißt es immer nur: zack, zack, zack. Viele Eltern sagen: In der wenigen Zeit, in der wir als Familie zusammen sind, hätten wir es gerne harmonisch. Das kann ich sogar verstehen.
Gutes Streiten muss nicht in einer persönlichen Niederlage münden
Warum ist das Thema Streit für viele Menschen so angstbesetzt?
Wir Menschen sind Beziehungswesen und aufeinander angewiesen. Beim Thema Streit denken wir oft an Gewinnen und Verlieren. Niemand will verlieren, weil das als Angriff auf die persönliche Integrität betrachtet wird. Und Verlierer fühlen sich oft allein. Zu lernen, dass gutes Streiten eben nicht in eine persönliche Niederlage münden muss, wäre eine Lernaufgabe für alle. Aber viele Eltern sagen: Da sollen sich Kita und Schule drum kümmern. Und viele Lehrkräfte sagen: Streitkultur zu entwickeln, ist Aufgabe des Elternhauses.
Aber viele Eltern fühlen sich beim Thema "Konflikte lösen" nicht kompetent.
Ja, weil bestimmte Bilder aus ihrer eigenen Kindheit wieder in ihnen aufsteigen. Aber wenn zu Hause alle miteinander reden, wenn jeder sagen darf, was ihn bewegt, ohne dass das sofort bewertet oder bestraft wird, dann muss es weder unangenehm noch laut zugehen. Und es gibt keine Verlierer, sondern lauter Gewinner.
Dann können Kinder lernen, Streiten ist etwas Gutes, weil wir dann eine Lösung finden, mit der wir alle leben können. Das nennt man Kompromiss. Natürlich sollte das alles abgestimmt sein auf Alter und Entwicklungsstand des Kindes. Das ist wirklich eine Riesenherausforderung, und wir landen immer wieder beim gleichen Thema: Für all das brauche ich Zeit.
Wie wichtig ist die Vorbildfunktion der Eltern?
Sehr wichtig. "Leg endlich mal das Handy weg" ist eine blöde Forderung, wenn man selbst ständig am Handy hängt. In meiner Partnerschaft kann ich auch vorleben, wie konstruktives Streiten geht. Streit darf sein, aber man darf auch Lösungen finden. Oder sich entschuldigen, wenn man sich falsch verhalten hat. Viel schlimmer wäre es, bei Konflikten gegenüber den Kindern krampfhaft auf heile Welt zu machen. Kinder spüren, wenn etwas nicht stimmt. Immer.
Fünf Konflikte, die jedem Paar begegnen – und wie wir sie lösen
Vielleicht kennen Sie das Sprichwort: Der Ton macht die Musik. Bei einem Streit trifft das im Zweifel noch mehr zu als in anderen Situationen. Wenn wir mit einem Angriff ins Gespräch gehen, unseren Partner schroff von der Seite anmachen oder plötzlich wütend mit haltlosen Vorwürfen um uns werfen, dann ist es eher unwahrscheinlich, dass daraus ein zielführendes Gespräch entsteht. Gottmann nennt das einen "harten Einstieg". Wir lassen uns von unseren Gefühlen leiten und beginnen das Gespräch direkt negativ. Das wiederum beeinflusst die Stimmung beider Gesprächspartner, weil die Reaktion für die andere Person oft nicht nachvollziehbar ist. Sie beruht auf angestauten Emotionen, die dann wie Bomben aus uns herausplatzen. Wenn der Partner sich dann wenig überraschernd angegriffen fühlt, reagiert er oft ebenfalls mit einem entsprechenden Gegenangriff. Und der Streit gerät außer Kontrolle.
Was wir falsch machen
Wenn uns die Gefühle bereits zu Beginn eines Streits übermannen, dann kritisieren wir unseren Partner und sind mit unseren Aussagen eher bei ihm, als bei uns. Das ist Gottmann zufolge allerdings nie zielführend, da wir dabei oft persönlich werden, statt uns auf die Situation bezogen zu beschweren. Bei einem "harten Einstieg" kommt es zudem oft zu einer Generalabrechnung – das heißt, wir nutzen die Gelegenheit, um auch alte Kritikpunkte nochmal auf den Tisch zu packen. Die haben dort aber gar nichts zu suchen, das sorgt höchstens für eine Überforderung und die Abkehr vom eigentlichen Problem.
Warum wir so handeln
Gottmann nennt vor allem drei Faktoren als Ursache für diesen weit verbreiteten Streit-Fail: Stress, Groll und Abwendung. Das heißt, eine stressige Zeit, unterdrückter Groll innerhalb der Partnerschaft, der sich mit der Zeit anstaut oder das Gefühl, den Partner nicht mehr anders erreichen zu können, begünstigen den "harten Einstieg". Manchmal aber wüssten wir es einfach nicht anders, weil wir von unseren Eltern dieses Streitmuster übernommen haben.
Wie es besser geht
Die ersten 180 Sekunden eines Streits entscheiden laut Gottmann wesentlich, in welche Richtung er sich entwickeln wird. Wir sollten sie also sinnvoll – und vor allem bedacht – nutzen. Es gehe darum, dem anderen Raum und Zeit zu geben, sich auf das Gespräch einzustellen, statt ihn direkt mit Vorwürfen zu überfallen. Das bedeutet, das eigene Anliegen ohne Vorwurf, Kritik und Geringschätzung zu kommunizieren. Gemeinsam mit einem Mathematik-Professor hat Gottmann dafür eine einfache Formel für den "weichen Einstieg" entwickelt: "Ich fühle (mich) x. Das Problem ist y. Ich brauche z." Damit der Streit sich in eine konstruktive Richtung entwickelt, kommt es aber auf beide Parteien an. Statt in die Verteidigung zu gehen, sollte der zweite Part erstmal zuhören und wirklich verstehen wollen. Erst dann gilt es, eine gemeinsame Lösung zu finden.
Wie kann gutes Streiten in der Familie konkret gelingen?
Eine hilfreiche Grundhaltung kann sein: "Wir beide gegen das Problem" und nicht "Wir beide gegeneinander". Bedeutet: Nicht du bist als Person unmöglich, sondern mich stört dieses eine Verhalten. Ich trenne also zwischen Person und Sache. Ein anderer Punkt: Zunächst einmal sollten sich die Erwachsenen in ihren Gefühlen regulieren. Da ist die erste Hürde. Wenn wir sauer sind auf unsere Kinder, sagen wir Sachen wie: "Jetzt hör mir mal gut zu!" Oder: "Ich habe dir schon hundertmal gesagt, du sollst dein Zimmer aufräumen." Wir hauen verbal erst mal drauf – und die Kinder müssen sich zurücknehmen. Andersherum wäre es besser. Ich reguliere meine Gefühle als Erwachsener. Atme tief durch. Und merke: Stopp, ich bin sauer und du bist sauer. Erzähl mir mal, was ist eigentlich los bei dir? Wie kam es dazu? Wie geht es dir jetzt? Was ist jetzt gerade passiert?
Die Eltern nehmen sich selbst zurück, führen aber moderierend durch den Prozess.
Genau. Die größte Hürde liegt in der aufflammenden eigenen Emotion. Und die Leistung bestünde darin, sich zu sagen: Halt, ich habe jetzt hier ein Kind vor mir. Und dann das Kind einzubinden: "Ich möchte dieses, und du möchtest jenes. Lass uns mal überlegen, ob wir etwas finden, was für uns beide passt." Dann folgt ein Brainstorming und im Anschluss eine Prüfung der Ideen, welche für uns beide passen könnten.
Sollte sich jeder Streit mit einem Kompromiss beenden lassen?
Nein, den gibt es manchmal nicht.
Haben Sie ein Beispiel?
Mein Sohn wollte mit 14 abends aufs Oktoberfest. Alle seine Freunde durften das. Und ich sagte ihm: Ich verstehe dich, und es tut mir sehr leid, ich kann dir das mit 14 nicht erlauben. Es gibt auch so was wie ein Jugendschutzgesetz. Ich habe eine Grenze gesetzt. Dann haben wir diskutiert. Ich bot ihm an, nachmittags zu gehen. Das wollte er nicht. Abends wollte ich nicht. Kein Kompromiss möglich.
Und dann?
In solchen Situationen zeigt sich, wie es um das Beziehungskonto in der Familie steht. Ob ein Kind ein Verbot auch akzeptieren kann, weil es weiß: Meine Eltern meinen es gut mit mir, und sie erlauben mir, was sie erlauben können. Aber hier geht es einfach nicht. Und dann kann das Kind das auch aushalten lernen.
Es gibt aber auch Eltern, die immer wieder nachgeben, um bloß keinen Streit mit dem Kind zu riskieren.
Ja, und oft spielt auch hier der Faktor Zeit eine Rolle: Ich will das bisschen Zeit, das ich neben dem Job noch habe, nicht mit Streiten verbringen. Oder ich habe so wenig Zeit für mein Kind, dass ich aus schlechtem Gewissen mehr erlaube, als ich eigentlich will.
Eltern sollten ihren Kindern vertrauen – und Kinder ihren Eltern
Wie ließe sich die Streitkultur in Familien verbessern?
Ich würde mir Eltern wünschen, die ihren Kindern vertrauen. Und Kinder, die ihren Eltern vertrauen. Und Eltern, die sich selbst vertrauen. Dass sie Dinge ansprechen und diskutieren können. Das kann zwar Zeit und Nerven kosten, aber das bringt Eltern und Kinder näher zusammen. Reibung erzeugt Wärme. Im Leben wird es immer Konflikte geben. Aber wir können sie bewältigen und an ihnen wachsen.
Noch einmal zurück zu Weihnachten. Ihr Rat für einen harmonischen Abend?
Klären Sie das, was sich klären lässt, im Vorfeld. Und wenn es um Konflikte zwischen erwachsenen Kindern und ihren eigenen alten Eltern geht, dann versuchen Sie, nicht in alte Rollen zurückzufallen. Vergegenwärtigen Sie sich: Sie sind jetzt schon groß! Sie schaffen das.