Erfahrungsbericht "Zum Irrenarzt? Niemals!"

stern-Reporter Jürgen Steinhoff wollte seine Krankheit lange nicht wahrhaben, ehe er mit ihr zu leben lernte.

Am liebsten blieb ich bei zugezogenen Vorhängen im Bett

Vor 15 Jahren habe ich eine Herzoperation über mich ergehen lassen müssen. Auf meiner Herzklappe hatte sich ein bohnengroßer Tumor gebildet. Ich schwebte akut in der Gefahr, durch sich ablösende Gerinselteilchen einen Schlaganfall zu bekommen. Am Nachmittag vor der Operation musste ich eine Einverständniserklärung über die möglichen Nebenwirkungen unterschreiben. Eine war »Depression«. Um sie habe ich mir die geringsten Sorgen gemacht. Niedergeschlagen ist schließlich jeder mal im Leben.

Die Operation war ein voller Erfolg. Der Tumor war entfernt und als gutartig erkannt worden. Ich war nach zwei Wochen wieder auf den Beinen und nach vier Wochen zu Hause.

Aber seelisch ging es mir schlecht. Ich wachte nachts schweißnass auf, fiel dafür morgens in bleiernen Schlaf, fühlte mich danach wie gerädert, hatte keinen Appetit, auf nichts Lust. Am liebsten blieb ich bei zugezogenen Vorhängen im Bett und war froh, wenn meine Frau mir unseren damals sechs Jahre alten Sohn vom Halse hielt: Lärm ging mir durch Mark und Bein. Auch Licht konnte ich vor allem morgens kaum ertragen.

Ich begann darüber nachzugrübeln, ob mein Leben noch einen Sinn habe

In die Redaktion kam ich fast immer zu spät. Ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich bekam Angst, dass meine Chefs etwas von mir wollten. Woche um Woche saß ich an meinem Schreibtisch, antriebslos, lustlos, ideenlos, immer müde und immer in Angst. Mittags ging ich, wenn überhaupt, allein in die Kantine, um nicht in Gespräche verwickelt zu werden.

In mir wuchs die Überzeugung, nie mehr einen Artikel schreiben zu können, schon weil ich Schwierigkeiten hatte, die richtigen Worte zu finden. Ich würde meinen Beruf aufgeben müssen. Wir würden Zinsen und Tilgung für unser Haus nicht mehr bezahlen können. Ich begann darüber nachzugrübeln, ob mein Leben noch einen Sinn habe. Ein Freund, Psychiater von Beruf, wies mich darauf hin, dass ich wahrscheinlich eine Depression hätte. Doch davon wollte ich nichts wissen.

Als sich mein Zustand sechs Monate nach der Operation noch immer nicht geändert hatte, verordnete meine Frau mir vier Wochen Urlaub in Ostfriesland mit täglichen stundenlangen Fahrradtouren. Ich wollte nicht, denn neben Licht und Lärm war mir auch körperliche Anstrengung zuwider. Aber meine Frau bestand so energisch darauf, wie ich sie noch nicht erlebt hatte. Widerwillig machte ich mit.

Die Besserung war nicht von Dauer

Meine Kondition verbesserte sich. Und mit ihr, ein bisschen wenigstens, auch mein elender Zustand. Aber die Besserung war nicht von Dauer. Bald pendelte ich nur noch zwischen Redaktion und Schlafzimmer. Tür zu im Büro. Vorhänge zu im Schlafzimmer. Mein Sohn, ein fröhlicher Junge, ging mir umso mehr auf die Nerven, je lebendiger er wurde. Unser Kontakt riss ab, er machte einen Bogen um mich, wo er konnte.

Meine Frau begann an mir zu verzweifeln. Sie konnte vorschlagen, was sie wollte: Günstigstenfalls war es mir egal, meistens nervte es mich. Ich hatte auf nichts Appetit und nahm mehrere Kilo ab, obwohl ich eigentlich hätte zunehmen müssen, weil ich seit der Herzoperation nicht mehr rauchte. Bis dahin hatte ich stark geraucht.

Wenn wir Besuch hatten, sagte ich nur etwas, wenn ich angesprochen wurde. Freunde und Bekannte fingen an, sich zurückzuziehen. Meine Frau glaubte, so hat sie mir später erzählt, die Operation habe mein Wesen verändert, mich in einen abwechselnd schweigenden und nörgelnden Kotzbrocken verwandelt.

Ich wollte nicht mehr leben

Im Spätsommer entschied sie, dass wir wieder in Urlaub fahren. Weil ich mich zu keinem Ziel entschließen konnte, fuhren wir mit dem Auto aufs Geratewohl Richtung Italien. Auf dem Weg machten wir einen Abstecher zum Titi-See im Schwarzwald. Als mein Sohn dort im Wasser plantschte, habe ich mich auf einen großen Stein gesetzt und bin weinend zusammengebrochen, überzeugt davon, nichts mehr wert zu sein, nur noch meiner Familie zur Last zu fallen. Ich wollte nicht mehr leben.

Nachdem wir trotzdem an der Adria ein paar Tage Badeurlaub gemacht hatten und auf der Rückfahrt in einem Hotel in Garmisch übernachteten, las meine Frau mir aus der »Süddeutschen Zeitung« vor, der zurückgetretene schleswig-holsteinische Ministerpräsident Uwe Barschel sei von einem STERN-Reporter in einem Genfer Hotel tot in einer Badewanne gefunden worden.

Es klingt absurd, aber als ich das hörte, war mein trostloser Zustand schlagartig beendet. Warum das so war, kann ich bis heute nicht sagen. Wir fuhren nonstop zurück nach Hamburg, ich meldete mich sofort zum Dienst, wollte an der Geschichte mitarbeiten, obwohl natürlich längst ein Team gebildet worden war.

»Gott sei Dank, jetzt bist du wieder der Alte.«

Es kam mir so vor, als sei mit mir überhaupt nichts gewesen. Mein Sohn konnte wieder toben, meine Bürotür stand wieder offen, meine Kontaktscheu war verschwunden. Ein Jahr nach der Operation rauchte ich in einer Kneipe mit Kollegen meine erste Zigarette und eine zweite, dritte. Als meine Frau kam, um mich abzuholen, und mich rauchen sah, fiel sie mir um den Hals und sagte: »Gott sei Dank, jetzt bist du wieder der Alte.«

Die schöne Zeit endete Anfang 1993, nach sechs ungetrübten Jahren. Die Zeitungslektüre fiel mir schwerer und schwerer. Ich musste den Text fast mit dem Finger abfahren, weil ich, wenn ich in der Zeile verrutschte, die richtige Lesestelle nicht wiederfand. Allmählich begann ich auch wieder, mir um unsere wirtschaftliche Existenz Sorgen zu machen. Schlaflosigkeit, Schweiß, bleierne Müdigkeit, Lärmscheu, Minderwertigkeitsgefühl - alles stellte sich erneut ein. Nur mir wurde nicht klar, dass ich das schon kannte. Wieder behauptete unser Freund, der Psychiater, ich hätte eine Depression und solle dringend zu einem seiner Kollegen gehen.

Zu einem Irrenarzt? Ich? Niemals!

Was mich außer meiner Frau schließlich doch zum Arzt trieb, war eine Abmahnung. Ich hatte einen Artikel in den Sand gesetzt und mich geweigert, das Stück neu zu schreiben. Dazu war ich nicht in der Lage. Aber auch nicht dazu, meinen Chefs den Grund dafür zu sagen: nämlich, dass ich an einer Depression litt. (Als sie von der Krankheit erfuhren, haben sie die Abmahnung für nichtig erklärt.)

Meine Frau berichtete dem Arzt, einem Professor für Psychiatrie, von meinen Verarmungsängsten und von ihren vergeblichen Mühen, mir diese auszureden. Da sagte der Professor: »In dem Zustand, in dem Ihr Mann sich jetzt befindet, gehen solche Argumente zum einen Ohr rein und zum anderen Ohr wieder raus. Machen Sie ihm keinen Druck.« Verarmungsangst, sagte er, sei eines der drei typischen Erscheinungsmuster dieser Art von Depression; die beiden anderen seien die Angst, sich vor Gott versündigt zu haben, und die Angst, unheilbar erkrankt zu sein.

Er schrieb mich auf unbestimmte Zeit arbeitsunfähig, verordnete mir ein Psychopharmakum namens »Aurorix«, außerdem Schlaftabletten und ein Beruhigungsmittel namens »Tavor«. Weil ich Selbstmordgedanken hatte, musste ich zunächst täglich, dann zweimal pro Woche zur Gesprächstherapie erscheinen.

Humpelnde Seelen sieht man nicht

Die Tavor-Tabletten halfen mir sofort, vor allem bei Angstattacken. Die kamen ganz unvermittelt und waren ähnlich wie ein Schreck, der einem nach einem Beinahe-Verkehrsunfall auf den Magen schlägt; danach hatte ich das Gefühl, ein Tier habe mich angesprungen und seine Greifarme um meinen Brustkasten geschlungen. Mit Tavor war das Angstgefühl nach etwa zehn Minuten verschwunden.

Der Professor hielt mich mit den Schlaf- und Beruhigungstabletten an der kurzen Leine, weil sie abhängig machen. Ich lernte, meine Depression als Krankheit zu begreifen, die man ohne Hilfe nicht bewältigen kann. Ähnlich einem komplizierten Beinbruch. Wobei der Beinbruch den Vorteil hat, dass jeder den Grund für das Humpeln sieht. Humpelnde Seelen sieht man nicht.

Bis ich wieder arbeiten konnte, verging fast ein halbes Jahr. Die erste, unbehandelte Depression hatte über ein Jahr gedauert. Mein Sohn, der damals 13 Jahre alt war, kann sich gut an diese zweite Depression erinnern. Schwer habe ihm meine Lärmempfindlichkeit zu schaffen gemacht und die Tatsache, »dass man zu Hause nichts mehr machen konnte, kein Besuch, nichts«. Wenn ich ganz unten war, hätte ich keinen Kontakt mehr zu ihm gesucht. Das Schwerste sei für ihn gewesen, wenn ich, auf dem Wege der Besserung, wieder in die Erziehung eingegriffen hätte: »Da hatte ich Probleme, das richtig einzuordnen, erst so schwer krank, dass jedes komische Verhalten entschuldigt wurde, und dann sollte ich dich von einem Tag auf den anderen wieder für voll nehmen.«

Ich war der Überzeugung, dass mein Zustand an Trostlosigkeit nicht zu überbieten sei

Nach abermals sechs depressionsfreien Jahren verdüsterte sich mein Leben im vergangenen Jahr ein drittes Mal. Ich war sofort bei meinem Professor. Diesmal halfen die »Aurorix«-Tabletten nicht mehr. Ich bekam »Seroxat«, etwas ganz Modernes. Aber in meinem Unglück hatte ich das Pech, dass bei diesem Präparat nur die Nebenwirkungen eintraten.

Meine Seele humpelte von einem Tief zum nächsten. Grau, tiefgrau und fünf Wochen lang so schwarz, dass ich nicht mehr arbeiten konnte. Von Karfreitag bis Ostermontag lag ich apathisch im abgedunkelten Schlafzimmer im Bett, unfähig, mit anderen Kontakt aufzunehmen. Mein Wortschatz hatte sich fast auf die beiden Wörtchen »Ja« und »Nein« reduziert.

Mein Professor überwies mich in die psychiatrische Klinik. Bevor ich ins Krankenhaus kam, war ich der Überzeugung, dass mein Zustand an Trostlosigkeit nicht zu überbieten sei. Durch Mitpatienten wurde ich eines Schlimmeren belehrt. Wir lernten uns beim fast wortlosen Essen in einem gemeinsamen Speiseraum kennen, bei der Medikamenteneinnahme oder bei Aufgaben, die wir alle zu übernehmen hatten: Kaffee kochen, Frühstück vorbereiten, den Mineralwasservorrat auffüllen. Man war bemüht, uns ständig auf Trab zu halten. Wer wollte, durfte sogar im Park joggen. »Jede Anstrengung wird belohnt«, war ein geflügeltes Wort des Oberarztes.

»Das beste Antidepressivum ist Ausdauersport«

Von zwei neuen Medikamenten bekam ich derart zittrige Hände, dass ich Probleme hatte, die Zahnpasta aus der Tube auf die Bürste zu drücken. Aber mein Gemütszustand hellte sich spürbar auf. Nach zwei Wochen begann ich zaghaft zu glauben, was die Ärzte mir immer wieder versicherten: »Sie werden garantiert gesund.« Nach vier Wochen durfte ich nach Hause, völlig erschöpft, aber mit stetig steigendem Lebensmut. Inzwischen bin ich wieder gesund.

Der nächsten Depression versuche ich nun im Wortsinne davonzulaufen. »Das beste Antidepressivum«, hat mir mein Professor immer wieder gesagt, »ist Ausdauersport.« Eine Drei-Kilometer-Runde schaffe ich inzwischen in 20 Minuten.

Rat und Hilfe

www.kompetenznetz-depression.de

Informationen und Rat für Betroffene und Angehörige, Austauschmöglichkeit über ein Forum, Links

www.buendnis-depression.de

Online-Angebot des Nürnberger Bündnisses gegen Depression

Literatur

Günter Niklewski, Rose Riecke-Niklewski: Depressionen überwinden. Ratgeber für Betroffene, Angehörige und Helfer.

Stiftung Warentest 1998, 263 Seiten, 29,80 Mark

Beratung

Nakos - Nationale Informationsstelle Selbsthilfegruppen, Tel.: 030/8 91 40 19

Telefonseelsorge - berät in akuten Krisensituationen rund um die Uhr, Tel.: 0800/1 11 01 11 (evangelisch), 0800/1 11 02 22 (katholisch)

Psychotherapie-Informationsdienst - vermittelt kostenlos Therapeuten, Tel.: 0228/74 66 99, www.psychotherapiesuche.de

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