Kinder kommen in der Regel nicht übergewichtig auf die Welt. Zwar gibt es inzwischen immer häufiger Neugeborene mit einem Geburtsgewicht über vier Kilogramm, vor allem wenn die Mutter übergewichtig ist und Diabetes hat. Viele Kinder und Jugendlichen nehmen aber später, im Kindergarten, in der Schule und in den Jahren nach der Pubertät zu.
Die Gründe dafür sind lange bekannt: ungesundes Essen und zu wenig Bewegung. "Fernsehen ist einer der schlimmsten Dickmacher", sagt Martin Wabitsch, Kinderarzt und Adipositas-Spezialist von der Uniklinik Ulm. "Selbst wenn man nur ruhig auf dem Sofa liegt, verbrennt man mehr Kalorien, als wenn man das Gleiche vor laufendem Fernseher tut."
Anstatt zu toben, Fußball oder Verstecken zu spielen, hocken die Heranwachsenden lieber zu Hause. Die Kinder geraten schnell in einen Teufelskreis: Weil sie sich wenig bewegen, nehmen sie zu. Und weil sie zugenommen haben, bewegen sie sich noch weniger.
Hinzu kommt, dass viele Kinder und Jugendliche lieber fettige und süße Sachen essen statt Obstschnitze oder Müsli. Weil sie ständig zwischendurch naschen, kennen sie kein Hungergefühl mehr. Esspausen sind jedoch wichtig - vor allem für die richtige Verdauung.
Nicht alles lässt sich auf die Gene schieben
Wie Lebensmittel in rohem Zustand aussehen, wie sie riechen und wie sie schmecken, wissen viele Kinder heute nicht mehr. Anstatt selber zu kochen, greifen auch ihre Eltern immer häufiger zu Fertiggerichten und verarbeiteter Nahrung wie Hamburger und Fischstäbchen. Selbst in Schulkiosken sind häufig Burger und Pommes im Angebot sowie alkoholfreie Getränke mit Zucker.
Auch wenn ein Kind nicht dick geboren wird, spielt seine Veranlagung doch eine Rolle. Das zeigt eine britische Studie an über 5000 Zwillingen. Danach scheint die genetische Veranlagung 75 Prozent auszumachen, der Einfluss der Umwelt dagegen nur 25 Prozent. Aber dieser geringere Prozentsatz reicht aus für ganz unterschiedliche Entwicklungen: Bei gleicher genetischer Veranlagung war ein Zwilling dick, der andere dünn.
Aus einem dicken Kind wird ein dicker Erwachsener
Mittlerweile ist hierzulande jedes sechste bis siebte Kind übergewichtig; sechs Prozent haben sogar eine Adipositas, eine krankhafte Fettleibigkeit. Damit ist der Anteil der dicken Kinder seit den 80er Jahren um die Hälfte gestiegen; die Adipositas tritt bei Kindern sogar doppelt so häufig auf. Über Europa verteilt, soll es bereits 14 Millionen dicke Kinder geben - das entspricht der Bevölkerungszahl der neuen Bundesländer.
Kinder werden mit hoher Wahrscheinlichkeit dick, wenn
- ihre Eltern auch übergewichtig sind,
- sie bei der Geburt schon viel gewogen haben,
- sie sich wenig bewegen,
- sie viel fernsehen und am Computer spielen,
- sie zuckerhaltige Getränke zu sich nehmen.
Je dicker ein Kind ist, desto eingeschränkter ist auch sein Leben: Treppensteigen ist anstrengend; Fußballspielen, Ballett oder Reiten werden irgendwann unmöglich. Im Schwimmbad schämen sich die Kinder, für die Hänseleien der Schul- und Spielkameraden sind sie ein gefundenes Fressen.
Doch dick sein nagt nicht nur am Selbstbewusstsein, es macht auch krank. Kinder können Diabetes, Bluthochdruck oder Gelenkprobleme bekommen. Und aus einem dicken Kind wird überdurchschnittlich häufig auch ein beleibter Erwachsener. So brachte laut einer Studie jeder dritte übergewichtige oder adipöse Amerikaner bereits als Kind zu viele Pfunde auf die Waage.
Schäden
Stark übergewichtige Kinder haben Krankheiten, die sonst nur Erwachsene haben: Diabetes Typ 2, sogenannter Altersdiabetes, hoher Blutdruck, Fettstoffwechselstörungen und Gelenkprobleme. Selbst wenn ein Kind wieder abnimmt, verschwinden diese Begleiterkrankungen nicht unbedingt. Abhängig davon, wie lange die Störungen schon bestehen, können sie die Adern schon in Mitleidenschaft gezogen haben. Daher können stark übergewichtige Kinder bereits Vorstadien von Gefäßverkalkung haben.
Im Erwachsenenalter sind diese Kinder gefährdeter, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden. Ein dauerhaft erhöhter Blutzucker schädigt Nerven, Nieren und Augen. Hat ein Kind gleich mehrere Erkrankungen infolge des starken Übergewichts, steigt die Gefahr deutlich, frühzeitig zu sterben.
Die wichtigsten durch starkes Übergewicht ausgelösten Krankheiten sind:
- Bluthochdruck: bei etwa jedem dritten stark übergewichtigen Kind
- Fettstoffwechselstörungen: bei etwa jedem vierten stark übergewichtigen Kind
- Gicht: bei etwa jedem fünften stark übergewichtigen Kind
- Diabetes Typ 2: bei etwa einem Prozent der stark Übergewichtigen ab Beginn der Pubertät
- Fettleber: bei bis zu jedem zehnten stark übergewichtigen Kind
Kinder mit deutlich zu vielen Pfunden haben auch häufiger Hautprobleme, zum Beispiel Pilzinfektionen. Das starke Übergewicht beansprucht außerdem übermäßig die Gelenke: Diese nutzen sich früher ab und schmerzen. Ein wachsendes Problem ist das Schlafapnoe-Syndrom (SAS). Im Schlaf steht den Kindern immer wieder der Atem still. Erst der Sauerstoffmangel als Alarmreiz lässt die Atmung wieder einsetzen. Erholsam schlafen können diese Kinder so nicht. Folglich sind sie am nächsten Tag müde und unkonzentriert.
Auch die Seele trägt am Gewicht
Übergewichtige Kinder und extrem adipöse Jugendliche sind häufiger gemütskrank als ihre normalgewichtigen Kameraden. Allerdings ist es hier schwierig, zwischen Ursache und Wirkung zu unterscheiden. War das Kind erst depressiv und hat dann begonnen, alles in sich hineinzustopfen? Oder ist das Kind traurig, weil es dick ist und weil es deswegen womöglich gehänselt wird?
Die wichtigsten seelischen Störungen bei dicken Kindern und extrem adipösen Jugendlichen sind:
- Depressionen,
- Angststörungen,
- Psychosomatische Beschwerden (körperliche Symptome ohne körperliche Ursache),
- Bulimie,
- Binge-Eating-Störung (unkontrollierte Essattacken ohne Erbrechen)
Diagnose
Der Arzt versucht zunächst herauszufinden, ob eine bestimmte Krankheit das Übergewicht des Kindes verursacht. Dann stellt er fest, welche Krankheiten körperlicher oder seelischer Art bereits infolge des Übergewichts entstanden sind. In der Regel untersucht er dazu das Kind körperlich und stellt ihm und den Eltern eine Reihe von Fragen. Für die Diagnose braucht er keine Apparate oder Labortests.
Möglicherweise stellt der Arzt fest, dass das Kind entwicklungs- oder verhaltensgestört ist oder dass eine Essstörung vorliegt. Er wird dann mit den Eltern und dem Kind über eine Therapie dieser seelischen Leiden reden. Erst später steht dann die Behandlung des Übergewichts an.
Therapie
Experten gehen davon aus, dass eine Million Kinder in Deutschland adipös sind. Nur ein Bruchteil von ihnen ist in Behandlung. Kinder ab sechs Jahren sollten aber unbedingt ihr Gewicht reduzieren - egal, ob sie durch das Gewicht bereits krank geworden sind oder nicht.
Damit die Therapie Erfolg hat, müssen die Eltern und das Kind wirklich etwas ändern wollen. Ohne diesen Willen ist eine Behandlung sinnlos. Sie haben die Wahl zwischen einer Einzel- oder einer Gruppentherapie oder einer Behandlung im Krankenhaus. Die Angaben darüber, wie erfolgreich Therapien sind, schwanken zwischen 22 und 59 Prozent.
Eltern müssen mitmachen
Die meisten Therapien kombinieren Verhaltens-, Bewegungs- und Ernährungstherapien. Der Energieverbrauch soll gesteigert werden, die Energiezufuhr gesenkt. Die Qualität der Angebote schwankt; nur etwa die Hälfte der Therapeuten bezieht auch die Eltern mit ein. Weil das Gelernte aber mit deren Hilfe zu Hause fortgeführt werden soll, müssen die Eltern mitarbeiten. Oft werden sie zu gemeinsamen Treffen mit den Kindern, zu Elternabenden und Diskussionsrunden eingeladen.
Die Kinder lernen in der Therapie unter anderem, sich gesünder zu ernähren. Ernährungsspezialisten kochen mit ihnen, begleiten sie beim Einkauf oder inspizieren gemeinsam den heimischen Kühlschrank. Die Kinder lernen und trainieren ein neues Essverhalten, indem sie langsamer und mehrfach kauen.
Sporttherapeuten zeigen einfache Übungen und spannende Spiele. Psychologinnen stärken die Seele der Kinder und üben mit ihnen, wie sie den Hänseleien der anderen begegnen können. Alle Spezialisten gemeinsam bemühen sich darum, den Kindern eine neue Einstellung zu Ernährung und Gewicht zu vermitteln.
Behandlungsangebote prüfen
Eltern, die eine Therapie für ihr Kind suchen, sollten die Angebote nach folgenden Kriterien prüfen:
- Werden Verhaltens-, Bewegungs- und Ernährungstherapien in Kombination angeboten?
- Werden die medizinischen Aspekte von Übergewicht und Adipositas angesprochen?
- Arbeitet ein interdisziplinäres Team aus Kinderärzten, Ernährungsfachkräften, Sporttherapeuten und Psychologinnen mit?
- Werden die Eltern einbezogen?
Vorbeugen
Unter Umständen legen Eltern den Grundstein für die späteren Gewichtsprobleme ihres Kindes schon im Säuglingsalter, indem sie auf jedes Schreien mit Flasche oder Brust reagieren. Stattdessen sollten sie es auch mal mit Streicheln und Schaukeln beruhigen.
Der Babyspeck verwächst sich schon, meinen viele Eltern und Großeltern. Das kann stimmen, muss aber nicht. Spätestens wenn das Kind zur Schule kommt, sollte es möglichst kein überflüssiges Körpergewicht mit sich herumtragen.
Optimalerweise isst das Kind drei Hauptmahlzeiten und zwei Zwischenmahlzeiten am Tag. Mit Hilfe der Pausen lernt es, Hunger- und Sättigungsgefühle zu unterscheiden. Als Snacks eignen sich frisches Obst, Gemüse und Magermilchprodukte.
Den Löwenanteil der Nahrung sollten pflanzliche Lebensmittel ausmachen, vor allem Gemüse und Obst sowie Vollkornprodukte, ergänzt durch fettarme Milchprodukte, mageres Fleisch sowie Fisch. Fett- und zuckerreiche Lebensmittel sollten eher selten auf dem Speiseplan stehen.
Zum Trinken eignen sich Mineralwasser, ungesüßte Frucht- und Kräutertees sowie Fruchtsaftschorlen. Milch, Joghurtdrinks und unverdünnte Säfte sind keine geeigneten Durstlöscher.
Auf Süßigkeiten komplett zu verzichten ist aus psychologischen Gründen sinnlos. Eltern sollten versuchen, das Essen von Süßem zu einen Ritual zu machen. Sie könnten ihr Kind beispielsweise nach dem Essen selbst eine Süßigkeit aussuchen lassen.
Expertenrat
stern.de-Experte Professor Martin Wabitsch von der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin an der Universität Ulm beantwortet Ihre Fragen:
Warum haben dicke Kinder meist auch dicke Eltern?
Da spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Einerseits tragen die Gene ihren Teil dazu bei. Das Ernährungsverhalten ist genetisch fixiert, das heißt, Kinder bekommen in die Wiege gelegt, wie schnell sie essen und ob sie über das Sättigungsgefühl hinaus essen. Auch ob sie eher zu fett- und kohlenhydratreicher Nahrung greifen, ist genetisch bedingt. Andererseits haben Eltern eine starke Vorbildwirkung: Wenn Eltern Sport machen, sich viel draußen bewegen und zum Mittag Mineralwasser statt Cola trinken - warum sollte das Kind dies alles anders machen?
Gibt es Entwicklungsphasen, in denen Kinder mehr oder weniger stark zunehmen?
Die Kinder durchlaufen Phasen der Streckung und der Fülle. Das erste Lebensjahr ist eine Phase der Fülle; die Kinder nehmen viel zu. Sind die Kinder dann dick, ist das jedoch noch kein Grund zur Aufregung. Dann wachsen die Kinder bis zum Beginn der Schulzeit sehr stark. Kinder um die fünf, sechs Jahre sind extrem schlank, fast dürr; das ist aber völlig normal. Kinder, die dann dick sind, haben häufig auch zukünftig Gewichtsprobleme. Nach der Grundschulzeit erfolgt noch einmal ein kräftiger Wachstumsschub bis in die Pubertät. Danach neigen die Jugendlichen wieder dazu, Gewicht zuzulegen.
Wie formt sich das Essverhalten von Kindern?
Die Prägung erfolgt in der frühkindlichen Phase, sagen wir bis zum dritten Lebensjahr. Es ist ein Zwischending zwischen genetischer Veranlagung und dem eigenen Willen des Kindes. Untersuchungen zeigen, dass das Kind bereits durch die Nahrung der Mutter während der Stillzeit geprägt wird. Bestimmte Geschmackstoffe, die sich in der Muttermilch anreichern, wird das Kind auch später bevorzugen. Wenn ich meinem Kind also immer wieder gesunde Dinge anbiete und das in einem angenehmen Ambiente, dann wird es diese auch irgendwann essen. Das braucht viel Geduld; man muss es immer wieder probieren.
Wie erfolgreich sind Therapien für übergewichtige Kinder?
Für die meisten Kinder gibt es keine geeignete Therapie. Erfolgreiche Therapieverläufe beobachten wir vor allem bei Kindern, die von Vater und Mutter unterstützt werden. Für eine erfolgreiche Therapie muss die gesamte Familie hochmotiviert sein. Bewährt haben sich Modelle, in denen die Kinder zunächst ihre Motivation beweisen müssen, beispielsweise durch die Teilnahme an einer wöchentlichen Sportsstunde. Langfristige Programme bis zu einem Jahr sind erfolgreicher als kurzfristige. Grundsätzlich sollten Verhaltens-, Bewegungs- und Ernährungstherapien miteinander kombiniert sein.