Obwohl seine rechte Hirnhälfte fast vollständig verkümmert ist, kann ein zehnjähriges Mädchen normal sehen. Schottische Forscher haben nun den Grund für dieses medizinische Phänomen gefunden. Wie sie in der Fachzeitschrift "PNAS" berichten, scheint die linke Hirnhälfte des Mädchens alle visuellen Reize alleine zu verarbeiten - sowohl jene, die ins linke, als auch jene, die ins rechte Gesichtsfeld fallen. Für die Entwicklung eines vollständigen Gesichtsfelds sind eigentlich beide Hirnhälften notwendig, denn jede Hirnhälfte reagiert nur auf Reize aus dem jeweils gegenüberliegenden Gesichtsfeld.
Als das Mädchen dreieinhalb Jahre alt war, brachten es die Eltern wegen epileptischer Anfälle zum Arzt. Neben diesen Anfällen und einer Verkümmerung des rechten Auges zeigte das Mädchen jedoch keine Auffälligkeiten oder Entwicklungsstörungen. Erst eine genauere Untersuchung ihres Gehirns zeigte: Die rechte Hirnhälfte des Mädchens war unvollständig ausgebildet. Nach der siebten Schwangerschaftswoche müsse diese Hirnseite aufgehört haben zu wachsen, so die Vermutung der Mediziner. Mittlerweile ist das Mädchen zehn Jahre alt und sieht mit ihrem linken Auge fast so gut, wie es Menschen üblicherweise nur mit zwei Augen können. Ohne die Augen zu bewegen, hat es von links nach rechts einen Blickwinkel von rund 170 Grad und von oben nach unten von rund 110 Grad, was einem vollständigen Gesichtsfeld entspricht.
Wie das funktioniert, war den Wissenschaftlern bislang ein Rätsel, da Menschen für die Entwicklung eines vollständigen Gesichtsfelds normalerweise beide Gehirnhälften benötigen. Die Wissenschaftler um Lars Muckli von der Universität in Glasgow und seine Kollegen untersuchten nun die Aktivität der linken Gehirnhälfte des Mädchens auf visuelle Reize, die entweder ins linke oder ins rechte Gesichtsfeld fielen. Dabei entdeckten sie, dass die linke Hirnhälfte bei allen Reizen aktiv ist. Außerdem stellten sie fest, dass die Sehnerven, die eigentlich zur rechten Hirnhälfte führen sollten, bei dem Mädchen in der linken Hirnhälfte münden.
Offenbar war zum Zeitpunkt, als sich die Sehnerven entwickelten, die rechte Hirnhälfte schon so weit geschädigt, dass sie keine Signale mehr senden konnte. Weil Signale fehlten, die die Nerven zur rechten Hirnhälfte leiteten, wuchsen sie stattdessen zur linken. Wahrscheinlich konnte sich das Gehirn des Mädchens gerade durch die frühe Verkümmerung der rechten Hirnhälfte so flexibel entwickeln, beurteilen die Forscher die Beobachtungen. Denn Patienten, die erst später, beispielsweise durch eine Operation, eine Hirnhälfte verlieren, können keinen derart vollständigen Sehsinn mehr entwickeln.