Beim Mittagessen sagt mein Schwiegervater: "Heute Abend gibt’s Blutwurst und Bläschen." Er reibt sich vorfreudig die Hände.
In meiner Familie wird während des Essens und Trinkens darüber geredet, was wir als Nächstes essen und trinken. Dass mein späterer Mann einer zum Heiraten ist, merkte ich unter anderem daran, dass seine Familie es genauso macht. Ich liebe das: beim Essen über Essen zu sprechen. Besonders jetzt, wo der vergangene Sommer noch mal alles raushaut, was er hat. Besonders hier, bei meiner Schwiegerfamilie auf dem Land in der Normandie. Im Herbst schwelgen sie in Selbstangebautem: Kartoffeln, Kürbisse, Rote Bete, Bohnen, Birnen, Gurken. "Patrice hat 62 Liter Apfelsaft gepresst!", ruft mein jüngerer Sohn begeistert und kommt mit matschigen Stiefeln in die Küche gerannt. Patrice ist der Nachbar und sein Freund. Als Rentner hat er viel Zeit für die Ernte und für kleine Erntehelfer.
Das Gefühl der Woche: Ernte-Dankbarkeit
Und ich, die ich nichts säe und nichts ernte, mich überkommt so etwas wie Ernte-Dankbarkeit. Mein Gefühl der Woche. Klar, wir können alles rund um die Uhr im Supermarkt kaufen. Aber so eine knallvolle Scheune mit Lebensmitteln, die hier und nirgendwo sonst gewachsen sind, macht mich hungrig und, ja, irgendwie dankbar.
Dankbarkeit ist ein gesundes Gefühl, nicht nur, wenn es ums Essen geht. Wer sich immer mal wieder klar macht, wofür er dankbar ist, widersteht Stress, Angst und Anfällen von Sinnlosigkeit. Seit etwa 20 Jahren zeigen Forschungen, wie Dankbarkeitsprotokolle (per Tagebuch oder mit speziellen Apps) den Blutdruck senken, ein positives Selbstbild schaffen und bei leichten Depressionen sogar Antidepressiva ersetzen können.
Über die Autorin
Helen Bömelburg ist Autorin des stern und die Frau hinter dem neuen Newsletter "Das Gefühl der Woche". Sie ist Historikerin mit Doktorhut und interessiert sich für alles Vergangene und Zeitgeistige, für gesellschaftlichen Wandel, Kinder und Krankheiten. Persönliche Betroffenheit: Patchwork, Frankreich, Feminismus, allergische Schocks.
Klar, das mit der Dankbarkeit ist schwer. Zu viel Mist würgt uns die Weltpolitik gerade rein, zu viele bittere Nachrichten sollen wir jeden Tag schlucken, es ist zum Kotzen. Wofür dankbar sein, wie zuversichtlich bleiben? Mein Kollege Tobias Schmitz hat dazu eine kluge Anleitung geschrieben. Danke, Tobi!
Wenn Sie eine Dankbarkeits-Anfängerin sind wie ich, stellen Sie vielleicht erst einmal eine mentale Liste der Gerichte auf, die unvergesslich lecker waren. Das hat meist wenig mit Sterneküche zu tun. Das leckerste Käsebrot ist das, was man nach stundenlangem Aufstieg am Gipfelkreuz verschlingt. Das beste Püree ist das nach der Zahn-OP. Und Rosé schmeckt ja eigentlich nie – außer, man hat das Glas in der Hand und die Füße im Mittelmeer. Dann ist er köstlich.
Zurück zur Blutwurst, den Bläschen und meinem Schwiegervater. Er wird am Abend in die Scheune gehen, seinen besten Crémant herausholen, und dann werden wir alle gemeinsam darauf anstoßen, dass Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy heute, am Dienstag, ins Gefängnis eingezogen ist, weil er im Wahlkampf illegale Spenden aus Libyen organisiert hat. Frankreich ist damit das erste EU-Land, in dem ein ehemaliger Staatschef in den Knast muss. Dazu essen wir geschmorten Kürbis. Danke, Kürbis! Danke, Rechtsstaat!
Der Sticker der Woche
Sie kleben auf Ampelmasten, Mauern oder Brückengeländern, und ich kann nicht daran vorbeigehen, ohne ein Foto zu machen: Aufkleber mit poetischen, provokanten, oft rätselhaften Botschaften auf kleinstem Raum. Keiner weiß, wer sie dahin klebt, aber sicher ist: Sie bleiben lange haften, auch im Kopf.
Dieser Sticker klebt an einem Laternenmast im Hamburger Schanzenviertel und will wohl sagen: Crémant trinken in netter Runde hilft, immer mal wieder dankbar zu sein.
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