Stammzell-Therapie Das dubiose Blasen-Business von Innsbruck

Von Astrid Viciano
Mit einer Stammzell-Therapie gegen Inkontinenz lockten österreichische Ärzte Patienten. Dabei halfen zweifelhafte Studien, unzulässige Behandlungen und Dreistigkeit.

Der Herr Professor Strasser sei furchtbar nett gewesen. Herzlich und kumpelhaft, ein stämmiger Kerl, sie haben über Fußball geredet. "Ich vertraute ihm sofort", sagt Manfred Enzensperger, 68. Der Münchner konnte seit der Entfernung seiner Prostata den Harn nicht mehr halten, nur mit Urinbeutel in der Hose das Haus verlassen, er litt wie ein Hund. Und hoffte auf Hilfe. Dass an der Stammzellbehandlung des Urologen der Universität Innsbruck etwas faul sein könnte, kam ihm nie in den Sinn.

Umso enttäuschter ist Enzensperger nach dem Sturz des gefeierten Mediziners vor wenigen Tagen: Hannes Strasser steht im Verdacht, eine klinische Studie über die Stammzellen frei erfunden zu haben, und es sollen Dokumente gefälscht worden sein - so das Ergebnis eines vertraulichen Prüfberichts der staatseigenen Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (Ages) vom 5. August 2008, der dem stern vorliegt. Seine Patienten erhielten demnach eine experimentelle Therapie, deren Nutzen noch nicht bewiesen ist, deren Risiken sich aber bereits abzeichnen - in schwerwiegenden Komplikationen bis hin zum totalen Harnstau. Etwa 400 Kranke hat Strasser behandelt, darunter 40 Deutsche. Seit dem 19. August ist er von der Klinik suspendiert worden und war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

Erste Anzeichen

Seit Jahren hatte Strasser die Methode "Urocell" zur Behandlung der Inkontinenz angepriesen. "Es zeigte sich ..., dass diese Therapie sehr effektiv ist", schrieb er im April 2006 in einem Brief an einen Patienten. Eine Behandlung, für die er Gewebe aus dem Oberarm entnahm und die darin enthaltenen Stammzellen im Labor zu Muskelzellen und Bindegewebszellen anzüchten ließ; die einen spritzte er dann in den Schließmuskel der Harnblase, die anderen in die Harnröhre. Um das Leck in der Harnblase sofort zu stopfen, gab der Arzt noch ein Rindereiweiß hinzu. Die Methode sollte den Schließmuskel stärken und die Harnröhre sanieren, so die Theorie.

Schon die Studiendaten weckten den Argwohn kritischer Fachleute. Denn nur langfristige Beobachtungen können zeigen, wie sicher eine solche Technik ist, "auch wegen des potenziellen Risikos einer Tumorneogenese in den transferierten Zellen", wie Wissenschaftler des Wiener Ludwig Boltzmann Instituts für Health Technology Assessment (Bewertung medizinischer Technik) schrieben - mit anderen Worten: Die Gefahr einer Krebserkrankung infolge der Verpflanzung ist nicht auszuschließen. "Ergebnisse über das erste Jahr hinaus wurden bisher nicht publiziert", hieß es weiter.

Trotz aller Unwägbarkeiten begeisterte die Erfindung im Nu die Kollegen. Strasser erhielt hohe Ehrungen, den Maximilian-Nitze-Preis 2005 der Deutschen Gesellschaft für Urologie sowie den Dr.-Wolfgang-Houska-Preis, einen der höchstdotierten Wissenschaftspreise Österreichs. Und er publizierte am 30. Juni 2007 Studienergebnisse im britischen Fachjournal "The Lancet", was als Ritterschlag jeden Medizinforschers gilt.

Die Studie sollte den Beweis für die Wirksamkeit der Therapie liefern, sollte als dritte und letzte Phase der klinischen Prüfung den Weg in den Krankenhausalltag ebnen. Doch inzwischen bezweifeln die Gutachter des Ages-Prüfberichts, dass die Untersuchung jemals stattgefunden hat. "Die vorgelegten Studiendokumente weisen zahlreiche Authentizitätsprobleme auf ", heißt es. In jedem Fall wurde die Studie ohne Genehmigung der Ethikkommission der Universität durchgeführt. Und Patienten wurden sogar außerhalb der umstrittenen Studie in der Innsbrucker Klinik behandelt - obwohl weitere Studien fehlen, die diese Therapie als anerkannte Methode der medizinischen Wissenschaft ausweisen: Erst dann dürfen sie im klinischen Alltag eingesetzt werden.

Zu voreilig

Doch pilgerten Patienten bereits ins schöne Tirol - nicht zuletzt, weil papierne Ergebnisse Hoffnungen weckten: Laut einer hauseigenen Studie, publiziert im "World Journal of Urology", waren 50 von 63 Patienten vollständig kuriert, bei zwölf besserten sich die Symptome erheblich, nur ein Patient meldete lediglich eine leichte Linderung seiner Symptome.

Zahlen, die andere Urologen nicht bestätigen können. Jürgen Gschwend etwa vom Klinikum rechts der Isar hat seine Forschung zur Zelltherapie eingestellt. Nur einem Drittel seiner Patienten konnte er damit helfen. Auch Thomas Otto vom Lukaskrankenhaus in Neuss sah nur bei der Hälfte der Kranken einen Erfolg. "Die Methode ist nicht schlecht, aber sicher kein Allheilmittel bei Harninkontinenz", sagt der Urologe, der sich seit Jahren mit der Züchtung von Gewebe beschäftigt. Erfolgsraten von fast 100 Prozent seien nicht möglich, weil das Einwachsen der Muskelzellen in den Schließmuskel sehr leicht gestört werden könne.

Ein Insider der Innsbrucker Klinik berichtet von 30 bis 40 Patienten, denen die Therapie nichts nützte - wie dem Münchner Patienten Manfred Enzensperger. "Ich war sehr enttäuscht", sagt er. Ein anderer Patient reichte 2006 Klage ein. "Ich ahnte nicht, dass es nur ein Experiment war", sagt Dieter Bollmann, Rechtsanwalt aus Berlin. Im Mai 2008 bekam er erstinstanzlich Recht. Weitere Patienten aus Deutschland, Kanada und den USA wollen vor Gericht ziehen. Und Bollmanns Anwalt Thomas Juen reicht demnächst Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Innsbruck ein.

Dabei geht es nicht allein um enttäuschte Hoffnungen. Mindestens zwei Patienten ging es nach der Behandlung viel schlechter. Bei ihnen verschloss sich die Harnröhre, nachdem Muskelzellen in die Harnblase gespritzt worden waren. Daran konnte auch eine Nachoperation nichts mehr ändern. "... Es gelingt auch hier ein vorsichtiger Versuch nicht, den Draht ... bis in die Blase vor zu schieben", so der OP-Bericht des einen Patienten. Die Ärzte mussten ihm einen Dauerkatheter implantieren.

Mindestens 13.000 Euro hat jeder deutsche Patient bezahlt. Allein die Firma Innovacell verlangt für Aufbereitung und Züchtung der Zellen 9000 Euro. Strasser ist Gesellschafter der Firma, ebenso wie bis Anfang August auch der Innsbrucker Rechtsanwalt Dietmar Czernich. Er vertritt den Leiter der urologischen Klinik Georg Bartsch in juristischen Angelegenheiten.

Fragwürdige Urteile

Bartsch steht auch als einer von zwei Operateuren auf dem OP-Bericht eines der Patienten mit Harnröhrenverschluss. Er firmiert neben anderen Kollegen als Autor der umstrittenen Lancet-Publikation, wurde jedoch im Prüfbericht der Ages von jeglicher Verantwortung freigesprochen. Er sei an der Studie nicht beteiligt gewesen.

Berichte von Insidern zeichnen ein anderes Bild. Bartsch, als autoritärer Klinikchef bekannt, soll seinen Oberarzt Strasser unter Druck gesetzt haben, seine Daten endlich an Lancet zu schicken - was Bartsch bestreitet. Unheimlich wichtig sei die Publikation gewesen, um aufkommende Zweifel an der Methode im Keim zu ersticken.

Georg Bartsch gilt als mächtiger Mann in Österreich, mit Seilschaften in Politik und Wirtschaft. So mächtig, dass er sich einer Aufforderung des Ärztlichen Direktors seiner Universität, Wolfgang Buchberger, widersetzen kann - ohne Konsequenzen. Der hatte ihn im Dezember 2006 ermahnt, keine Patienten mehr außerhalb von genehmigten klinischen Studien mit den Muskelzellen zu behandeln. Offenbar liefen die Therapien jedoch einfach weiter. Denn im November 2007 schrieb Buchberger: "Ich darf Sie ... nochmals dringend ersuchen - wie vereinbart - Stammzelltherapien der Harninkontinenz nur mehr im Rahmen von ... klinischen Studien durchzuführen."

Immer mehr, immer undurchsichtiger

Bartsch bleibt - doch seine Mitarbeiter verlassen die Klinik. Seit Januar 2008 sind elf Ärzte gegangen, und selbst aus der Distanz möchten sie nicht über die Vorfälle reden. "Man gilt in der Medizin schnell als Nestbeschmutzer", sagt ein ehemaliger Mitarbeiter der Klinik. Es sei besser, den Zuständigen der Universität Innsbruck die Aufklärung der Vorfälle zu überlassen. Wenn sie denn dazu Gelegenheit haben.

Clemens Sorg etwa, vormals Rektor der Medizinischen Universität, wurde am 21. August vom Universitätsrat abgesetzt. Mit seiner Ankündigung, die Vorfälle rasch aufzuklären, habe die Maßnahme jedoch nichts zu tun, versichert Christoph Huber, Mitglied des Gremiums. Sorg hat rechtliche Schritte eingeleitet. Und der Skandal weitet sich aus: Bei mehr als sechs weiteren Studien der urologischen Klinik fehlt die Zustimmung der Ethikkommission, bei einer sollen Kinder mit einer nicht zugelassenen Arznei therapiert worden sein.

Immerhin wird im Oktober 2008 erstmals die "Nationale Stelle für Verstöße gegen die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis" in Österreich ihre Arbeit aufnehmen. Sie soll Forscher entlarven, die ihrer Karriere zuliebe Daten manipulieren. Oder die Studien veröffentlichen, die gar nicht stattgefunden haben.

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