Kieferorthopäden Goldgrube Mund: Wie Ärzte mit Zahnspangen Kasse machen

Eine junge Frau beim Kieferortopäden
Mehr als die Hälfte der Jugendlichen in Deutschland bekommt eine Zahnspange verpasst. In Ländern wie Schweden oder Großbritannien sind es deutlich weniger
© Phoenixns / Getty Images
Zahnspangen-Behandlungen werden zu oft, zu früh, zu lange und zu schlecht ausgeführt. Eine Abrechnung mit der Kieferorthopädie.

Der gerade veröffentlichte "Barmer-Zahnreport" fördert große Missstände in der Kieferorthopädie zutage. Mehr als 50 Prozent der Kinder bekommen in Deutschland Zahnspangen verordnet – eindeutig zu viele, folgern die Autoren der Versorgungsstudie und verweisen auf "Unschärfen bei der Bewertung der Behandlungsbedürftigkeit." Mädchen werden noch häufiger versorgt als Jungen, in Bayern und Baden-Württemberg tragen etwa zwei Drittel von ihnen eine Zahnspange. "Schönheitsideale, Gruppendruck und elterliche Fürsorge" seien dafür wohl die Gründe, sagt der Vorstandsvorsitzende der Barmer Krankenkasse Christoph Straub und legt damit den Finger tief in die Wunde. Schon lange wird von vielen Seiten kritisiert, dass die gesetzlichen Krankenkassen zu viel Geld für kieferorthopädische Therapien ausgeben. In einem erheblichen Teil der Fälle sind diese wahrscheinlich nicht aus medizinischen Gründen, sondern allenfalls aus ästhetischen Gründen indiziert. Für Schönheitseingriffe aber ist die Solidargemeinschaft der gesetzlich Krankenversicherten nicht zuständig.

Der vorliegende Artikel erschien im Jahr 2019, ist aber nach kritischer Durchsicht des Verfassers heute so aktuell wie damals. Die pseudoreligiöse und hochumstrittene Ideologie hinter der "Idealokklusion", nach der 95 Prozent der Kinder eines Jahrgangs kieferorthopädisch behandlungsbedürftig wären, reicht ins 19. Jahrhundert zurück und fand auf wundersame Weise ihren Weg ins deutsche Zahnheilkundegesetz von 1952. Da schon wurden die rechtlichen Grundlagen für die heute kritisierte Übertherapie in der Kieferorthopädie gelegt.

Die "Galerie des Schreckens" des Henning Madsen lagert im Keller des Mietshauses in Ludwigshafen, wo er seine Praxis führt. Dort liegen in schmalen Pappkartons die Abdrücke menschlicher Gebisse von 40 Patienten. Hinter jedem steckt eine Leidensgeschichte. Seit sieben Jahren dokumentiert der Kieferorthopäde mit der Sammlung das Versagen von Berufskollegen. Die Box auf dem Schreibtisch in seinem Büro trägt die Nummer 1770, ein aktueller Fall. "Hier der früheste Abdruck von Marion* , heute 19 Jahre alt und seit drei Monaten bei uns in Behandlung. Er stammt aus dem Jahr 2008, sie war sieben Jahre alt. Und was hat der Kollege erreicht?" Madsen nimmt einen weiteren Abdruck in die Hand, datiert auf 22. Oktober 2018: "Schiefere Zähne als damals! Zehn Jahre nach Therapiebeginn!" Alle Gipsabdrücke stammen von Patienten wie Marion. Alle waren nach Jahren ergebnislosen Spangentragens irgendwann mit ihren verzweifelten Eltern in seiner Praxis gelandet. "Warum? Weil die Kassen umstandslos bis zu vier Jahre Kieferorthopädie bezahlen, die werden einfach ausgeschöpft. Danach kann sogar noch um vier Jahre verlängert werden."

Immer wieder entdeckt Madsen die gleichen Tricks, mit denen Kollegen Therapiezeit schinden. 

Erschienen in stern 29/2019

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