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Kieferorthopäden Goldgrube Mund: Wie Ärzte mit Zahnspangen Kasse machen

Eine junge Frau beim Kieferortopäden
Mehr als die Hälfte der Jugendlichen in Deutschland bekommt eine Zahnspange verpasst. In Ländern wie Schweden oder Großbritannien sind es deutlich weniger
© Phoenixns / Getty Images
Zahnspangen-Behandlungen werden zu oft, zu früh, zu lange und zu schlecht ausgeführt. Eine Abrechnung mit der Kieferorthopädie

Die "Galerie des Schreckens" des Henning Madsen lagert im Keller des Mietshauses in Ludwigshafen, wo er seine Praxis führt. Dort liegen in schmalen Pappkartons die Abdrücke menschlicher Gebisse von 40 Patienten. Hinter jedem steckt eine Leidensgeschichte. Seit sieben Jahren dokumentiert der Kieferorthopäde mit der Sammlung das Versagen von Berufskollegen. Die Box auf dem Schreibtisch in seinem Büro trägt die Nummer 1770, ein aktueller Fall. "Hier der früheste Abdruck von Marion* , heute 19 Jahre alt und seit drei Monaten bei uns in Behandlung. Er stammt aus dem Jahr 2008, sie war sieben Jahre alt. Und was hat der Kollege erreicht?" Madsen nimmt einen weiteren Abdruck in die Hand, datiert auf 22. Oktober 2018: "Schiefere Zähne als damals! Zehn Jahre nach Therapiebeginn!" Alle Gipsabdrücke stammen von Patienten wie Marion. Alle waren nach Jahren ergebnislosen Spangentragens irgendwann mit ihren verzweifelten Eltern in seiner Praxis gelandet. "Warum? Weil die Kassen umstandslos bis zu vier Jahre Kieferorthopädie bezahlen, die werden einfach ausgeschöpft. Danach kann sogar noch um vier Jahre verlängert werden."

Immer wieder entdeckt Madsen die gleichen Tricks, mit denen Kollegen Therapiezeit schinden. So verpassen sie oft bereits Kindern im Grundschulalter Spangen – obwohl der Kiefer noch wächst und Fehlstellungen von selbst verschwinden können. Dabei heißt es in der Richtlinie der gesetzlichen Krankenversicherung explizit, dass Behandlungen in der Regel "nicht vor Beginn der zweiten Phase des Zahnwechsels beginnen sollen" – also im Alter von zehn bis zwölf Jahren. Ein anderer Trick: Sie verwenden herausnehmbare Spangen, obwohl diese deutlich ineffizienter sind als festsitzende Modelle. Bereits im Jahr 2001 wurde ihre Verbreitung von Sachverständigen scharf kritisiert. "Trotzdem verwenden Kieferorthopäden sie bis heute landauf, landab", sagt Madsen.

Zu viel, zu früh, zu lange, zu schlecht. So fasst er die Probleme der deutschen Kieferorthopädie zusammen. Zwei Artikel schrieb Madsen darüber für ein Fachblatt, in ihnen sind unangenehme Wahrheiten zu lesen: So erhalten in Deutschland mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen Zahnspangen, in Großbritannien sind es gerade mal 12 bis 18, in Schweden 27 Prozent. Hierzulande quälen sie sich oft länger als drei Jahre, im europäischen Ausland sind sie meist nach zwei Jahren fertig.

Madsen ist das Enfant terrible einer Zunft, die massiv in der Kritik steht. Einer, der früher lange Haare trug und gegen Atomkraft demonstrierte. Im Kampf gegen das Establishment der Kieferorthopäden war er lange Zeit allein, wurde als Nestbeschmutzer gemieden, auf Kongressen angefeindet, sogar aus dem Redaktionsbeirat einer Fachzeitschrift gedrängt, sagt er. Heute hat er viele Mitstreiter.

Im vergangenen Jahr stellte der Bundesrechnungshof die Kieferorthopäden an den Pranger. Jährlich 1,1 Milliarden Euro aus dem Topf der gesetzlichen Krankenkassen verschlingen demnach die Spangenbehandlungen – plus einen Betrag X, der den Eltern privat abgeknöpft wird. Jeder Zweite berappte mehr als 1000 Euro, dabei sollten eigentlich alle Kosten durch die Krankenkasse abgedeckt sein. Die Eltern werden mit Werbesprüchen gelockt wie "Aus der Raumfahrttechnologie" oder "optimierte Therapie". Oft wird behauptet, Luxus-Brackets und Bögen machten die Behandlung schneller und schmerzloser. Bewiesen wurde das nie.

Dienen Zahnspangen nur der Ästhetik?

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, frisch im Amt und kampfbereit, beauftragte das Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES), die Kieferorthopädie grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen. Kernfrage: Wie wirken sich die Spangen langfristig auf die Mundgesundheit aus? Sechs Wissenschaftler durchforsteten die internationale Fachliteratur und trennten die Spreu vom Weizen. Das Gutachten, vorgelegt zum Jahresanfang 2019, rüttelt am Fundament des Fachgebiets. Viele Behauptungen, mit denen Kieferorthopäden ihre Therapien rechtfertigen, sind unbewiesen. Zwar stehen schiefe Zähne nach Spangenbehandlungen oft schön gerade, doch hat das vermutlich keinerlei Einfluss auf das Risiko für Karies, Zahnfleischentzündungen und Zahnverlust. Nur bei der "mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität" können die Therapien punkten: Die Patienten fühlten sich beispielsweise wohler mit ihrem Aussehen und hatten weniger Schwierigkeiten beim Kauen und Beißen. Tatsächlich existierende, jedoch eher seltene Probleme bei extremen Kieferstellungen wie zum Beispiel Zahnfleischschäden oder eine erhöhte Gefahr für Schneidezahnabbrüche wurden nicht untersucht. Eine große Frage steht im Raum: Dienen Zahnspangen meist nur der Ästhetik?

In Greifswald triumphiert der neue Rebell der Kieferorthopäde: Alexander Spassov. Früher arbeitete er an der Uni-Zahnklinik, wollte Wissenschaftler werden. Vor fünf Jahren endete seine Karriere dort nach einem kritischen Artikel, den er zusammen mit einem Medizinhistoriker und einem Sozialwissenschaftler veröffentlicht hatte. Die drei kamen zu ähnlichen Ergebnissen wie das IGES-Gutachten, zusätzlich aber enthielt der Text eine Provokation: In ihm schwang die Unterstellung mit, dass Kieferorthopäden Krankheiten und Bedrohungsszenarien erfänden, um Spangenbehandlungen zu verkaufen. "Aus Befragungen wissen wir, dass Kinder, die mit Spangen behandelt wurden, nur selten Beschwerden hatten, und ihren Eltern war auch nichts aufgefallen", sagt Spassov. "Die meisten wurden irgendwann vom Hauszahnarzt zum Kieferorthopäden geschickt."

Spassov rührte an ein gefährliches Denktabu. Die damalige Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Kieferorthopädie schrieb eine empörte E-Mail an Spassovs Chef Karl-Friedrich Krey. Spassov erinnert sich, von Krey sogleich zur Rede gestellt worden zu sein: Er diskutiere nicht über den Inhalt, solche Publikationen dürften nicht erscheinen, habe der gesagt. Der Pressesprecher der Universitätsmedizin Greifswald bestätigt, dass es "verschiedene Gespräche" gegeben habe, allerdings sei Spassovs Darstellung des Inhalts "unzutreffend". Jedenfalls erließ der Professor zwei Tage später eine Dienstanweisung, laut der alle Forschungsprojekte künftig über seinen Tisch gehen müssten. Bald arbeitete Spassov nicht mehr an der Uni-Zahnklinik. Die Angelegenheit zog weite Kreise. Sie beschäftigte den Landtag in Mecklenburg-Vorpommern, Fachzeitschriften und überregionale Medien. Kritiker sahen die im Grundgesetz garantierte Forschungsfreiheit bedroht. Spekulationen, dass Spassov wegen des umstrittenen Artikels vor die Tür gesetzt wurde, wies der Pressesprecher jedoch als "Legendenbildung" zurück. Es sei Alltag und gängige Praxis, dass Forschungsprojekte und Zeitverträge ausliefen.

Spassov eröffnete eine Praxis, was in seinem Lebensplan nie vorgesehen war. Sie liegt in einer stillen Wohnstraße Richtung Stadtrand, ein schmuckloser Klinkerbau. Einen Tag lang führt er dort den Beobachter in die Untiefen der "Kieferorthopädischen Indikationsgruppen" (KIG) ein – eines deutschen Systems, nach dem Zahnfehlstellungen in fünf Schweregrade eingeteilt werden. Ab Grad drei kann auf Kosten der Krankenkasse behandelt werden.

Die erste Patientin des Tages sitzt im Zahnarztstuhl, Aliya, blonde lange Haare und blaue Augen, 13 Jahre alt. Seit drei Monaten trägt sie im Oberkiefer eine feste Zahnspange, ihr zweiter Schneidezahn rechts oben stand hinter der Zahnreihe. "Ich mag sie nicht, sie stört mich beim Sprechen und tut weh." Heute will Spassov auch den Unterkiefer versorgen, damit die Zahnreihen künftig aufeinanderpassen. Aliya verschränkt ihre Arme: "Das ist überflüssig!" Spassov seufzt. "Schau mal, Aliya, oben sieht es doch schon sehr gut aus, du bist fast fertig. Was sagt denn die Mama?" Die Mutter stimmt für die Spange. "Unten geht es auch schnell, versprochen."

Später, im Büro, rechnet Spassov an Aliyas Behandlungsplan vor, was nicht stimmt mit dem deutschen Vergütungssystem. Abgerechnet wird nach dem "Einzelleistungsprinzip". Das bedeutet: Je länger sich ein Kind mit Spangen quält, desto mehr verdient der Kieferorthopäde. Zwei Jahre und 2000 Euro hat Spassov in Aliyas von der Kasse abgesegneten Behandlungplan veranschlagt. "Aber wir werden nach einem Jahr fertig sein. Ich werde wohl 1000 Euro weniger bekommen. Wer effizient gute Ergebnisse erzielt, wird vom System bestraft."

Die Lösung liegt für Spassov auf der Hand: Kieferorthopäden müssten unabhängig von der Behandlungsdauer eine Pauschale erhalten. So handhabt man es seit dem Jahr 2015 im Nachbarland Österreich. Ihr Honorar erhalten die Kieferorthopäden dort erst, nachdem sie den Behandlungserfolg mit einem international gebräuchlichen Index nachgewiesen haben. Die Verbesserung der ursprünglichen Zahnfehlstellung muss bei mindestens 70 Prozent liegen. Sogar gegen Zuzahlungen gibt es eine Regelung: Wenn angeblich bessere Materialien wie Keramikbrackets verwendet werden, wird die gesamte Behandlung zur reinen Privatleistung. Sprich: Die Eltern müssten alles selbst zahlen. Die Maßnahmen wirken. Seit Einführung der neuen Regelung verkürzte sich in Österreich die durchschnittliche Behandlungsdauer von vier auf zwei Jahre.

Das Streben nach dem perfekten Gebiss

Zurück am Zahnarztstuhl, wo jetzt Spassovs Zweitmeinung gefragt ist. Die 17-jährige Julia öffnet ihren Mund, ihr Gebiss scheint perfekt. Sie habe vier Jahre Zahnspangen getragen, sagt die Mutter. "Die Zähne sind jetzt schön gerade, geblieben aber ist der Überbiss." Spassov misst nach: Die oberen Schneidezähne stehen sieben Millimeter vor. "Jetzt sagt der Kieferorthopäde, sie soll sich operieren lassen." Spassov fasst sich an den Kopf. "Hast du denn irgendwelche Beschwerden, Julia?" "Manchmal bleibe ich beim Abbeißen am Brot hängen." Spassov zählt die Behandlungsmöglichkeiten auf: Die Operation sei aufwendig, langwierig und risikobehaftet. Der Oberkiefer werde gebrochen und neu zusammengefügt. Oder: zwei Zähne ziehen, um Platz zu schaffen. Oder: nichts tun, abwarten. "Kannst du denn mit dem Kauproblem leben?" Julia: "Eigentlich schon." Spassov: "Du verlierst nichts. Man kann auch in fünf Jahren noch therapieren." Julia klingt erleichtert, als sie sagt, sie wolle es sich überlegen.

"Ein Fall von Übertherapie", sagt Spassov. "Julia wurde offenbar nie gefragt, was sie selbst will." Viele Menschen lebten mit einem Überbiss. Das Gros der Kieferorthopäden jedoch strebe nach dem perfekten Gebiss – der "Idealokklusion".

Aber wer definiert, was "ideal" ist? Darüber sinnierte im ausgehenden 19. Jahrhundert der US-Zahnarzt Edward Angle, Begründer der modernen Kieferorthopädie. An seiner "Angle-Klassifikation" orientieren sich die heute international üblichen Einteilungsschemata für Zahnfehlstellungen. Sie entstand in einer Zeit, als die Naturwissenschaft teilweise noch stark religiös beeinflusst war. Einer der damals prominentesten Zahnärzte und Lehrer Angles sah im perfekten symmetrischen Biss einen Beweis dafür, dass Gott den Menschen wie ein perfektes Uhrwerk geschaffen haben muss – und demzufolge Darwin mit seiner Evolutionstheorie irrte. Von dieser Geisteshaltung geprägt, schuf Angle die "Idealokklusion". Im Jahr 1898 stellte er sein revolutionäres Klassifikationssystem in der Zeitschrift "Dental Cosmos" der Fachwelt vor. Um Gesundheitsrisiken durch Zahnfehlstellungen wie Karies oder Parodontitis ging es ihm da nicht. Die Zähne sollten, so seine Idee, beim Beißen an einer maximal möglichen Zahl von "Kontaktpunkten" aufeinandertreffen, was die Kau-Effizienz erhöhe. Außerdem, ja vielleicht vor allem, ging es ihm um das Erreichen eines Zustands perfekter Schönheit, orientiert an einem Abbild des griechischen Gottes Apollo. Die ideale Profillinie der Mund-Kinn-Partie beschreibt er so: "Eine kurze, fein geschwungene und markante Oberlippe; eine volle, runde, aber weniger ausgeprägte Unterlippe und eine stark ausgeprägte Vertiefung an der Basis der Unterlippe, die dem Kinn Rundung und Charakter verleiht." Schon kleine Abweichungen vom Ideal brandmarkte Angle als "Malokklusion", also als Fehlstellung, was eine Krankheit suggerierte.

Schon vor vielen Jahren verbannten US-Wissenschaftler die "Idealokklusion" ins Reich der Pseudowissenschaften – und das ausgerechnet in der nach Angle benannten Fachzeitschrift "Angle Orthodontist". Doch die Norm ist tief in den Köpfen verankert.

Auf wundersame Weise fand sie 1952 ihren Weg ins deutsche Zahnheilkundegesetz. Dabei weisen maximal fünf Prozent der Bevölkerung eine "Idealokklusion" auf, wie man heute weiß. 95 Prozent der deutschen Kinder waren also fortan theoretisch behandlungsbedürftig. Einen weiteren Meilenstein auf dem Weg zu öffentlichen Geldern erklommen die Kieferorthopäden im Jahr 1972 durch ein folgenreiches Urteil des Bundessozialgerichts. Es zwang die Krankenkassen, Kiefer- und Zahnstellungsanomalien als Krankheit anzuerkennen – und dazu mussten noch nicht mal Symptome vorliegen, es reichte, wenn zukünftige Beeinträchtigungen drohen könnten. Es war ein Einfallstor für den Ideenreichtum von Krankheitserfindern. Die Ausgaben der Kassen für Spangenbehandlungen stiegen rasant. In einer letzten Verzweiflungstat kürzte der Gesetzgeber in den frühen 2000er Jahren die Gebühren für kieferorthopädische Leistungen und führte die KIG ein. Leichte Fehlstellungen waren fortan nicht mehr behandlungsbedürftig.

Unnötige Strahlenbelastung

Für die Kieferorthopäden war das eine Katastrophe, ihre Praxiseinnahmen durch Kassenpatienten sanken um einen Gesamtbetrag in dreistelliger Millionenhöhe. Doch sie holten zu einem gewaltigen Gegenschlag aus. Sie erfanden jede Menge Zusatzleistungen, die aus der Sicht von Spassov überflüssig sind und die sie den Eltern aufbürdeten oder sogar ganz offiziell über die Krankenkassen abrechneten. Funktionsuntersuchungen des Kiefers zum Beispiel, die schnell mit mehreren Hundert Euro zu Buche schlagen können und eigentlich nur bei Kiefergelenksbeschwerden sinnvoll sind. Oder aber häufige Röntgenaufnahmen, die gerade bei Kindern zu bedenklichen Strahlenbelastungen in der hochempfindlichen Kopfregion führen können. "Sie werden völlig unnötig gefährdet", sagt Alexander Spassov. Tatsächlich sind Röntgenaufnahmen in der Mehrzahl der kieferorthopädischen Fälle überflüssig, worauf die europäische Strahlenschutz-Leitlinie für zahnärztliche Behandlungen hinweist.

Einen besonders raffinierten Trick zur Geldvermehrung kennt der Versicherungsgutachter und Kieferorthopäde Johannes R. (dessen Arbeitgeber seinen kompletten Namen nicht im stern sehen will): "Man erfand das Wort 'Standard-Materialien'." Was das ist? Eine Zahnspange primitivster Bauart, die heute niemand verwendet, sie taucht lediglich in der "Gebührenordnung für Zahnärzte" (GOZ) auf, nach der die Kieferorthopäden Privatleistungen abrechnen. Demnach besteht sie zum Beispiel aus "unprogrammierten Edelstahlbrackets, unprogrammierten Attachments und Edelstahlbändern". Für Johannes R. ist das ein Witz: "Damit wurde in den 50er Jahren in USA gearbeitet, heute und hier in Deutschland aber kann man diese Materialien gar nicht kaufen." Auch sei kaum ein Kieferorthopäde in Deutschland darin ausgebildet, die starren Drähte für solche Brackets routinemäßig zurechtzubiegen. "Würde viel zu lange dauern", sagt R.

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Und doch gibt es solche Primitiv-Spangen – zur Abschreckung für Kassenpatienten. Stefan O., Vater des elfjährigen Johann, hat eine gesehen. "Die Zahnarzthelferin zeigte uns ein schreckliches Metallgestell mit abstehenden Drähten und sagte, das sei das 'Basic'-Modell, das die Kasse bezahle." Eine dreiste Lüge, denn nirgendwo ist festgelegt, welche Materialien Kassen übernehmen und welche nicht. Sodann bekam er "Premium"- und "Superior"-Modelle zu sehen, zahnfarben, diskret, angeblich sei mit ihnen die Behandlung schneller und schmerzloser. Private Zuzahlung: 2000 bis 2500 Euro.

Lange haben sich Madsen und Spassov allein für eine bessere Kieferorthopädie in die Bresche geworfen. Gutachter Johannes R. ist ein stiller Verbündeter. Das Schweigen müsse ein Ende haben, findet er. "Ich kenne einige Kollegen, die so denken wie die beiden, doch sie halten lieber ihren Mund."

Das vernichtende IGES-Gutachten gibt den Kritikern jetzt Rückenwind. Doch was wird sich ändern? Die Deutsche Gesellschaft für Kieferorthopädie reagierte mit einer knappen Pressemitteilung: Klinische Studien, die die langfristigen Auswirkungen von Zahnspangen auf die Gesundheit untersuchten, seien aufgrund des langen Zeitraums zwischen Therapie und Wirkung eben schwer durchführbar. Der Auftraggeber des Gutachtens, das Bundesgesundheitsministerium, schweigt. Es seien Anhörungen mit einem großen Kreis von Experten angedacht, um den Handlungsbedarf zu ermitteln, so eine Pressesprecherin. Der Rechnungsprüfungsausschuss des Bundestages hat Spahn eine Frist bis Ende August gesetzt: Dann erwarte man einen Bericht "über die durchgeführten bzw. beabsichtigten Maßnahmen".

Henning Madsen fürchtet, dass diese übers Ziel hinausschießen könnten – dass sich die gesetzlichen Kassen schrittweise aus der Leistungspflicht zurückziehen könnten. "Dann wird man bald die Kinder aus ärmeren Familien wieder an ihren schiefen Zähnen erkennen", so der Kieferorthopäde. "Das will keiner", sagt auch Alexander Spassov. "Man müsste vielmehr dringend neu über den Krankheitsbegriff nachdenken." Schwere Fehlstellungen führten dazu, dass Kinder in der Schule gehänselt und ausgegrenzt würden und später Nachteile im Job hätten. "Solche Probleme können durchaus Krankheitswert erreichen." Er und Madsen sind sich deshalb einig, dass eine "psychosoziale Indikation" anerkannt werden sollte.

Seine "Galerie des Schreckens" will Madsen demnächst für eine große Studie auswerten. "Damit die Stümperei mancher Kollegen endlich für alle sichtbar wird." Spassov hat immer noch die Hoffnung, seine wissenschaftliche Karriere an einer Universität fortzusetzen. "Vielleicht muss ich dafür Deutschland verlassen", sagt er. Jede freie Minute verbringt er vor dem Computer. Ein neues Forschungsprojekt steht an, dafür mailt und telefoniert er mit Kieferorthopäden europäischer Nachbarländer über die dortige Gesetzeslage und Versorgungssituation. Spassovs Ziel: "Ich will, dass das Dogma der Idealokklusion fällt. Europaweit."

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