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10. Todestag von Astrid Lindgren Die Bullerbüisierung der Welt

Pfefferkuchen, Holzhäuschen, Ringelsocken - durch die schwedische Bilderbuchromantik von Astrid Lindgren wachsen Kinder mit einem "Heile-Welt-Phantasma" auf, sagen Kritiker. Warum eigentlich nicht? stern.de-Autorin Tanja Beuthien plädiert angesichts des 10. Todestags der Autorin für eine Bullerbüisierung der Welt.

Neulich, im Kindergarten: "Wie heißt du denn", will meine Tochter von einem Mädchen wissen. "Madita", verkündet die Mutter stolz. Darauf mein Kind: "Ach, die hab ich schon als Buch". Das Buch ist schon ein bisschen abgegriffen. Es heißt "Wie gut, dass es Weihnachtsferien gibt, sagte Madita". Und neben "Die Kinder aus Bullerbü", "Pippi Langstrumpf", "Die Kinder aus der Krachmacherstraße" und "Lotta zieht um" gehört es zum absoluten Leib und Magen-Vorlesekanon meiner Tochter.

Seit sie Geschichten verstehen kann, lebt sie in einer Astrid-Lindgren-Alles-wird-gut-Bullerbü-Welt. Sie träumt von roten Holzhäusern und ewiger Freundschaft, vom Krebsfangen im See und vom Hüttenbauen in der Scheune. In der Weihnachtszeit möchte sie Pfefferkuchenschweinchen ausstechen, wie Lasse, Bosse und Lisa, sie möchte Zimtwecken essen, und am Heiligen Abend um den Baum tanzen, wie alle Kinder aus Bullerbü. Am Geburtstagsmorgen besteht sie darauf, so lange im Bett liegen zu bleiben bis sie mit Kerze, Blumen und einer Tasse heißer Schokolade geweckt wird wie Lotta aus der Krachmacherstraße. Pippi Langstrumpf, die den Spielzeugwarenladen leer kauft, ist ihr großes Idol. Und natürlich hat sie sich auch schon eine Erbse in die Nase gesteckt, wie Maditas kleine Schwester Lisabeth.

Wir sind ein Volk von Schweden-Schwärmern

Anders gesagt: Ihr kleiner Kopf ist vollgestopft mit einer "Heile-Welt-Phantasie", ihre "Psyche" ist besetzt von schwedischer Bilderbuchromantik, wie es der Autor eines deutschen Monatsmagazins einmal kritisierte: Der "ewige Bauernhofurlaub der Kinder von Bullerbü", verstelle den Blick auf das "reale Schweden", in dem der Rassismus tobt, die Jugendlichen alkoholkrank auf den Straßen abhängen und die "sechs Monate dauernde Novemberdepression" noch jede Lust am Leben verdirbt. Außerdem führe die Lindgrensche Indoktrinierung dazu, dass später alles Schwedische mit kindlicher Einfalt und Freude betrachtet werde: die Bildungs- Familien- und Sozialpolitik, der Energiekonzern Vattenfall, die emanzipierten, arbeitenden Frauen, die Vollzeit-Kitas, Fjorde, Elche, und selbst, huch, Ikea.

Die frühen Leseerlebnisse prägen den Blick auf die Welt wie nichts sonst - "und wie die Welt von morgen aussehen wird, hängt im großen Maße von der Einbildungskraft jener ab, die gerade jetzt lesen lernen", hat schon Astrid Lindgren erkannt. Ein Volk von Schweden-Schwärmern ist da also heimlich herangewachsen - allein in Deutschland haben sich "Pippi", "Michel", "Karlsson", "Ronja" und Co. rund 25 Millionen Mal verkauft.

Lindgren hat das Traurige nie ausgespart

Verlieben wir uns also in das weiße Hemnes-Tagesbettgestell bei Ikea, weil wir noch immer die Bullerbü-Bilderbücher mit den Zeichnungen von Ilon Wikland vor Augen haben? Nehmen wir den bunten Küchenläufer mit, weil Lisas Mutter an Weihnachten immer neue Flickenteppiche auslegte? Essen wir im Ikea-Restaurant "Köttbullar" und denken an die unvergleichlichen "Fleischklößchen", von denen wir als Kind nie genau wussten, wie sie eigentlich schmeckten - genauso wenig wie "Grütze" und "Stockfisch", "Zimtwecken" oder "Eier-Toddy"? Kaufen wir bei H&M die geringelten Kinderstrumpfhosen, weil Pippi immer so frech damit umherhüpfte? Nennen wir unsere Kinder Madita und Ida und Lotta und Lasse, weil wir die Astrid-Lindgrensche-Wunder-Welt nie vergessen können?

Ja, natürlich tun wir das. Und was ist falsch daran? Werden wir deshalb an der harten, hässlichen Realität zerbrechen? Astrid Lindgren selbst hat in ihren Geschichten, die uns heute so wohlig-vertraut vorkommen, das Traurige und das Schreckliche, Krankheit, Tod, Einsamkeit und Unglück nie ausgespart. "Erzähl mal was von Gespenstern, Mördern und dem Krieg", bittet Maditas kleine Schwester Lisabeth. Und Astrid Lindgren erzählt: Vom Selbstmord der Brüder Löwenherz, vom einsamen, von den Pflegeeltern vernachlässigten Bo Vilhelm Olsson in "Mio, mein Mio". Von den armen, gequälten Kindern, die in "Sonnenau" eine neue Heimat finden. Und vom Waisenkind Malin, das im Armenspital die tröstlichen Worte hört: "Klingt meine Linde", die ihr Kraft geben bis in den eigenen Tod. Selbst in Bullerbü gibt es den alkoholkranken Schuhmacher Nett, der gar nicht nett ist. Und den alten Großvater, der davon berichtet, wie er als Kind von fremden Menschen geprügelt wurde.

Ein bisschen Romantik schadet nicht

Astrid Lindgren selbst hat sich ihre Bullerbü-Bilderbuchwelt zurückgeschrieben, als sie längst in Stockholm wohnte, weit weg von dem ochsenblutroten Holzhaus auf Näs, in dem sie aufgewachsen ist. Die Idylle ihrer Kindheit endet abrupt, als sie als 18-jährige Volontärin der "Wimmerby-Tidning", vom Chefredakteur geschwängert, die Kleinstadt verlässt. Ihren Sohn Lars (Lasse) bringt sie 1926 in einem Krankenhaus in Kopenhagen zur Welt. Er wächst bei einer Pflegefamilie in Dänemark auf, während Astrid Lindgren als Kontoristin in Stockholm arbeitet und eisern am Essen spart, um ihren Sohn wenigstens alle sechs Wochen mit der Bahn zu besuchen. Erst als er drei wird, holt sie Lasse zu sich. Sie arbeitet als Sekretärin, heiratet 1931 den geschiedenen Sture Lindgren, den späteren Direktor von Schwedens größtem Automobilklub. Der gemeinsamen Tochter Karin, geboren 1934, erzählt Lindgren von "Pippi". Und wird erst 1944 zur Schriftstellerin, als sie auf Glatteis ausrutscht, mit verstauchtem Fuß eine Woche im Bett liegen muss und endlich die Geschichte von "Pippi Langstrumpf" aufschreibt.

Ihre Kindheit hat Astrid Lindgren ihr Leben lang mit sich getragen, die Erinnerung an die Spiele mit ihren drei Geschwistern, an das Schlittengeläut im Winter und das Krebsefangen im Sommer. Sie hat daraus wunderbare Bücher gemacht und Millionen Kindern ihre Erlebnisse geschenkt. Wenn Sie dadurch ein bisschen romantischer werden, bitteschön. Wenn Sie sich nach heiler Welt sehnen und in Ihr Ikea-Sofa kuscheln, auch gut Wir jedenfalls laden Madita aus dem Kindergarten ein. Und backen Pfefferkuchenschweinchen, dass es nur so brummt.

Tanja Beuthien

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