Marcel Reich-Ranicki "Ich habe mich nie geirrt"

Das Feuilleton ist abgehoben? Es schreibt an seinen Lesern vorbei? Jaa, sagt Marcel Reich-Ranicki, das beklage er doch unentwegt! Ein Gespräch über die Krise der Kritik.

Herr Reich-Ranicki, in diesem Frühjahr hat die Literaturkritik wieder darüber gestritten, was ein gutes Buch ausmacht. Was sagen Sie?

Ich könnte es mir leicht machen und einfach sagen: Ein gutes Buch darf nicht langweilig sein. Anders ausgedrückt: Es muss mein Interesse wecken - mit seinen Figuren, seiner Handlung, seinen Stimmungen, seinen Milieus, aber natürlich auch mit seiner Darstellungskunst. Thomas Mann hat einmal gesagt, des Erzählers Kunst sei es, zu unterhalten noch mit dem, was eigentlich langweilig sein müsste, also mit dem Altvertrauten.

Ist für Sie daher das Unterhaltsame wichtiger als die mögliche - literaturhistorische - Bedeutung eines Romans?

Sie konstruieren künstliche Gegensätze. Genuss und Bedeutung bedingen sich gegenseitig. Nur ein Buch, das mir Spaß bereitet, kann wirklich bedeutend sein. Unterhaltung und Spaß müssen immer sein. Das wussten schon die Autoren des größten Bestsellers der Welt, der Bibel. Übrigens: Wenn ein bekannter Schriftsteller gestorben ist, werde ich von den Nachrichtenagenturen immer wieder gefragt, was von ihm bleiben werde. Ich weiche dieser Frage aus, weil ich für die Literatur der Gegenwart und der Vergangenheit zuständig bin, nicht für die der Zukunft.

In den 60er Jahren haben Sie für die "Zeit" einmal im Jahr auch einen Trivialroman besprochen. Warum?

Weil die Redaktion es dringend wünschte. Ich sollte den Lesern erklären, warum Autoren wie Hans Habe, Willi Heinrich oder Luise Rinser damals so erfolgreich waren. Ich habe zu zeigen versucht, wie diese Romane gemacht sind und dass ihr Erfolg durchaus kein Zufall war. Schließlich hätten viele Leute gern solche Romane wie Habe geschrieben und damit viel Geld verdient, aber es ist ihnen eben nicht gelungen. Habe hat einen Roman, "Das Netz", verfasst, den er mit dem Satz begann: "Ich hätte ihn schon am Sonntag hängen können, aber ich wollte ihm den Tag des Herrn nicht verderben" usw. Technisch fabelhaft. Habe sagte: "Wer diesen ersten Satz liest, der liest den ganzen Roman." Er hatte Recht. Ich habe mich im Übrigen durchaus auch darum gekümmert, ob meine Kritik Einfluss hatte: in der Regel enormen. Ich habe irgendeinen Roman verrissen, aber weil ich geschrieben hatte, dass in schrecklichstem obszönem Deutsch pornografische Szenen geschildert werden, wurde er glänzend verkauft. Der Leser schmachtete damals nach diesen pornografischen Szenen.

Diesen Einfluss hat die literarische Kritik heute nur noch selten. Der SWR veröffentlicht jeden Monat eine Liste der "Besten Bücher", zusammengestellt von 33 Kritikern...

...da habe ich jahrelang mitgemacht...

...auf dieser Liste stehen überwiegend Bücher, die sich nur wenige hundertmal verkaufen. Wo sind die Leser?

Es funktioniert schlecht, weil die meisten Leute die SWR-Bestenliste überhaupt nicht kennen. Das lesen die nicht. Wollen Sie nun sagen, das ist eine Institution im luftleeren Raum? Ja, teilweise. Deswegen habe ich aufgehört, da mitzumachen.

Aber nicht nur die Bestenliste scheint abgehoben. Auch die großen Feuilletons ergehen sich in Debatten, denen kaum ein Leser folgen kann oder will.

Sie treten bei mir mit großem Schwung weit offene Türen ein. Das sage ich doch unentwegt: Vergesst die Leser nicht! Bei jedem Buch, das ich in die Hand nehme, frage ich mich: Wen interessiert das?

An wen denken Sie, wenn Sie eine Rezension schreiben?

Jedenfalls nicht an die Kollegen. Ich denke doch, wenn ich schreibe, nicht daran, was mein Freund und Kollege Joachim Kaiser meinen wird! Ich frage mich aber sehr wohl: Werden der Architekt, den ich gut kenne, und mein Anwaltsfreund diese Anspielung verstehen? Muss ich das deutlicher machen? Kritiken werden für Leser geschrieben.

Ohne Rücksicht auf Verluste.

Der junge, noch nicht etablierte Kritiker, der ehrlich schreibt, dass er diesen neuen Roman für total missraten hält, riskiert sehr viel. Ich war mit einer Kritikerin befreundet, die in einer großen Provinzzeitung schrieb. Sie hat ein Buch des Suhrkamp-Verlags verrissen. Während der Buchmesse findet nun aber der Kritikerempfang bei Suhrkamp statt, früher war das der Höhepunkt der Messe. Sie bekam keine Einladung. Der Verleger Unseld hatte gesagt: Sofort streichen! Ihr Chefredakteur bat sie nun aber, über den Empfang zu schreiben. Sie sagte: "Nein, ich bin gestrichen worden." Der Redakteur: "Ja, das geht nicht. Sie müssen sich so verhalten, dass Sie nicht ausgeschlossen werden." So ist sie mundtot gemacht worden. Ich kritisiere nicht Unseld. Er tat - was sein Recht war - alles für seine Autoren. Weiter: Ein Schweizer Kritiker, Mitarbeiter der "FAZ", sagte mir, "Ich kann über keinen Schweizer Autor eine Kritik schreiben. Nur über tote." Warum? "Ich schreibe die Kritik, die wird morgen gedruckt, übermorgen treffe ich ihn in der Straßenbahn. Er wird mir nicht die Hand geben." In Österreich ist es ähnlich.

Und weil das so ist, versuchen Verlage immer öfter, den persönlichen Kontakt zwischen Kritiker und Autor herzustellen. Da wird zum Beispiel gemeinsames Kajakfahren in den Alpen angeboten.

Diese Interviews mit Autoren! Ich habe einmal ein langes Gespräch mit Anna Seghers geführt, der Autorin des großen Romans "Das siebte Kreuz". Nach zwei Stunden hatte ich den Verdacht, dass sie dieses Buch überhaupt nicht begriffen hat. Von Literatur verstehen Autoren so viel wie Vögel von Ornithologie.

Verstehen denn Kritiker mehr von Literatur?

Sehen Sie, das ist ein weiterer wichtiger Punkt: Ich habe mir über Jahrzehnte die größte Mühe gegeben, einer Generation von Feuilletonredakteuren und Kritikern zu helfen. Ich habe mit ihnen gearbeitet und mich um ihre fachliche Erziehung sehr gekümmert. Jetzt gibt es leitende Redakteure, die sich überhaupt nicht um die Arbeit ihrer Leute kümmern. Ich habe etwas getan, was heute kaum noch einer tut: Ich habe die Artikel aufmerksam gelesen und redigiert, immer mit dem Ziel, ein deutliches Urteil herauszuarbeiten: "Hier ist ein Satz, ein Gedanke, der ist schon interessant, mach aus diesem einen Satz bitte drei. Die Leute haben nicht den Atem, so lange Sätze zu lesen." So habe ich Redakteure erzogen. Das wird heute kaum noch gemacht.
(Das Telefon klingelt, Reich-Ranicki telefoniert kurz, legt auf.)
Das war Maxim Biller, der Autor. Ich habe neulich in einem Interview gesagt, ich sei sehr wohl zur Verständigung mit Sigrid Löffler bereit, ich sei überhaupt zur Verständigung mit jedem bereit. Darauf hat Biller mir einen Brief geschrieben: "Auch mit mir?" Ich bin überhaupt nicht verkracht mit ihm! Er hat eine Erzählung geschrieben, in der er sagt, was für ein schrecklicher Mensch ich sei. Das haben mir Menschen erzählt. Ich habe das nie gelesen. Also: Ich bin unbedingt zur Versöhnung bereit. Sogar mit Walser!

Wie ist es mit Joachim Fest? Ihre Auseinandersetzungen begannen ja schon mit dem Historiker-Streit und kamen mit Fests Speer-Biografie beileibe nicht zur Ruhe...

An diesem prinzipiellen Streit ist ja die ganze literarische Welt stark interessiert. Ich habe hierzu das Nötige gesagt. Jetzt ist er dran. Schließlich geht es nicht um eine persönliche Angelegenheit, sondern um das Verhältnis zu Hitler: Und das betrifft doch wohl uns beide.

Gibt es Kritiken, die Sie heute zurücknehmen würden?

Wegen meiner Antwort werde ich auch von Ihnen für einen größenwahnsinnigen Menschen gehalten werden. Ich sage nämlich: Ich habe mich nie geirrt. Ich kann nicht über ein Buch, das ich vor 40 Jahren besprochen habe, heute sagen, ich hätte mich geirrt. Denn: In der Kritik steht, was ich vor 40 Jahren über dieses Buch gedacht habe. Es gibt keine Irrtümer, es gibt Urteile, die alle zeitbedingt sind. Ich könnte nur dann sagen, mein vor 20 oder 40 Jahren gedrucktes Urteil sei ein Irrtum, wenn ich sicher wäre, dass mein heutiges Urteil richtig ist. Diese Sicherheit habe ich nie. Ich habe Bölls Roman "Billard um halb zehn", um hier ein Beispiel zu nennen, sehr positiv beurteilt. Viel positiver, als er es wert war. Warum? Das war 59, ich war neu in der Bundesrepublik, knapp ein Jahr, ich war erstaunt, wie wenig sich die zeitgenössische deutsche Literatur mit der eben erst abgeschlossenen Epoche des Nationalsozialismus beschäftigt. Da war ein Autor, Böll, der sich sehr wohl damit beschäftigte, ja, dieser Epoche einen ganzen Roman widmete. Und ich dachte: So was muss man unterstützen. Ich habe den Roman, soweit ich nur konnte, gelobt. Ich bedaure es nicht. Genauso, wie ich es nicht bedaure, als ich von Stockholm gefragt wurde, wer den Nobelpreis bekommen soll, Böll genannt zu haben.

Das klingt, als hätten Sie diesen Vorschlag im Nachhinein infrage gestellt.

Nein. Ich habe gedacht, wenn sie mich fragen, erwarten sie einen deutschen Autor, nicht einen chinesischen. Ich habe also lange überlegt, eine halbe Minute, und telegrafiert: Heinrich Böll. Er hat den Preis bekommen. Wenn ich ihn nicht vorgeschlagen hätte, hätte er ihn wahrscheinlich auch bekommen. Ich habe auch andere Autoren genannt, fünf Jahre lang wurde ich gefragt, da haben sie immer einen anderen genommen. Ich habe vorgeschlagen: Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Graham Greene, und dann gibt's noch einen, der kann ihn noch bekommen: John Updike.

Meldet sich Stockholm telefonisch?

Nein, nein, nein. Per Brief. Die schreiben: "Wir bitten, Ihr Urteil zu begründen. Aber wenn Sie es eilig haben, geht es auch ohne Begründung." Sehr bequem. Tja. Und wem haben sie nicht alles den Preis gegeben? Dario Fo! Bitte, noch schlimmer geht's doch nicht. Oder doch? Elfriede Jelinek! Nein, bitte. Wissen Sie, der Nobelpreis für sie war eine Gemeinheit Günter Grass gegenüber. Der Preis für Grass ist entwertet worden durch den Preis für die Jelinek.

Heute wird das Feuilleton nur noch von etwa drei Prozent der Leser wahrgenommen. Kann das so weitergehen?

Die Zeitung druckt nicht nur das, was der Zeitung direkten Nutzen bringt. Es werden täglich in der Zeitung die Wettermeldungen veröffentlicht. Völlig sinnlos. Das Wetter wird so oder so, ob Sie es mitteilen oder nicht. Die Zeitung muss es berichten, weil es ein Interesse der Leser dafür gibt. Eine Zeitung lebt auch davon, dass sie einen Ruf hat, ein Renommee. Es hat sich im Laufe von 200 Jahren erwiesen, dass der Ruf einer Zeitung zu einem nicht geringen Teil vom Niveau des Feuilletons abhängt. Sehen Sie: In der "Zeit" wurde ab und zu die Frage gestellt, sollten wir nicht Meinungsforscher beauftragen, zu ermitteln, was die Leser bei uns lesen? "Jaaaa", sagten die politischen Journalisten, "wäre interessant!" "Jaa!", sagten die Kollegen vom Sport. Nur das Feuilleton - es schwieg. Sie haben verstanden? Denn die Umfragen zeigten, dass das Feuilleton schon damals nur von acht Prozent gelesen wurde. Dennoch: Der Verleger der "Zeit", Gerd Bucerius, hat einmal gesagt: "Wir haben jetzt viel mehr Abonnenten und Käufer. Dies ist zurückzuführen auf eine Blüte des Feuilletons unserer Zeitung." Er hat, ich schäme mich, das zu sagen, in diesem Zusammenhang auch meinen Namen erwähnt. Also: Sie können nicht mit der Frage "Wer braucht das?" die Kritik fertig machen. Sie wird von einem geringen Prozentsatz gebraucht, aber sie ist dringend nötig.

Damit gute Bücher auch weiterhin ihre Leser finden?

Ja. Auch Sie müssen dafür sorgen, dass im stern über diese guten Bücher ausführliche und sehr gut lesbare Kritiken erscheinen. Ich habe mich mein ganzes Leben lang mit dem ersten Satz gequält. Aus einem ganz einfachen Grund: Weil der Leser die Möglichkeit hat, nach meinem ersten Satz den Artikel wegzulegen. Gebt euch Mühe, Kritiken zu drucken, die die Leute dazu bringen, sie weiterzulesen.

Glauben Sie an die Zukunft der Kritik?

Ich glaube an die Zukunft der deutschen Sprache und der deutschen Literatur - und damit auch an die Zukunft der deutschen Kritik. Freilich: Die Krise der deutschen Kritik wird nie enden.

Interview: Stephan Draf, Florian Gless print

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