Marisha Pessl Das Leben ist eine Leseliste

Von Andrea Ritter
Die amerikanische Autorin Marisha Pessl schickt ein herziges Fleißbienchen auf Verbrecherjagd. Seit dem Erscheinen ihres Debütromans "Die alltägliche Physik des Unglücks" wird sie als Wunderkind gefeiert.

Schon im Vorfeld großes Raunen. Marisha Pessl, hieß es, sei das heißeste Ding im Frühjahr. Ihr Roman ein sensationelles Debüt, sie selbst nicht nur jung, intelligent und enorm belesen, sondern auch überaus hübsch. So hübsch, dass ihre amerikanische Verlegerin zunächst auf Autorenfotos verzichtete, um nicht vom Buch abzulenken. So talentiert, dass ihr eine simple E-Mail die Tür zu Jonathan Franzens Literaturagentin geöffnet hatte. So wertvoll, dass sie einen sechsstelligen Vorschuss bekam. So so.

"Was ist ein Autor?", fragt der französische Poststrukturalist Michel Foucault in seinem gleichnamigen Aufsatz von 1969. Der Literaturbetrieb bestätigt seine Antwort immer wieder aufs Neue - und in diesem Jahr ist Marisha Pessl wohl das beste Beispiel für seine These: Ein Autor ist nicht einfach jemand, der ein Buch geschrieben hat. Ein Autor ist die Summe all dessen, was über ihn geredet wird. Über weggelassene Fotos, die dann doch jeder zu sehen bekommt, über unglaublich lange Locken und unglaublich gute Examensnoten. Selbst das "Fräuleinwunder" wurde bei Marisha Pessl wieder aus der Kiste geholt. Wenn eine so junge Frau ein so erfolgreiches Buch schreibt, müssen schon metaphysische Mächte im Spiel gewesen sein, ist ja klar.

Mit der Zeit kamen die Verrisse

Je mehr im Vorfeld über einen Schriftsteller geredet wird, desto besser für den Verkauf . Auf der anderen Seite zeigt sich: "Don't believe the hype" ist nicht nur ein Song von Public Enemy. Sondern ein Abwehreflex, der sich bei Marisha Pessl ebenfalls gut beobachten lässt: Zuerst erschien das Buch in den USA und wurde hymnisch besprochen. In England waren die Kritiken dann schon verhaltener, mit der deutschen Übersetzung kamen die ersten Verrisse. Je später eine Rezension geschrieben wurde, desto deutlicher der Unmut: So toll sei das Ganze ja nun auch wieder nicht. Das ist jedoch weniger eine Reaktion auf den Roman als auf den ihm vorauseilenden "Hype".

Buchtipp

Marisha Pessl:
"Die alltägliche Physik des Unglücks"
Verlag S. Fischer
608 Seiten, 19,90 Euro

Das Buch lebt von einer Idee, die Inhalt und Form bestimmt: Die Lebengeschichte der 16-jährigen Ich-Erzählerin Blue van Meer ist aufgebaut wie ein Literaturkurs. Es gibt eine Einleitung, drei Teile gliedern die Geschichte. Die Kapitel heißen "Othello, William Shakespeare" oder "Der Prozeß, Franz Kafka". Am Ende steht eine "Abschlussprüfung" zum Textverständnis des Lesers. Mit Multiple-Choice-Test und einem Aufsatzthema.

Weil Blue ihr Wissen über die Welt hauptsächlich aus Büchern hat, arbeitet sie beim Verfassen ihrer Geschichte ebenfalls mit Verweisen auf Literatur und Fachbücher, mal echt, mal erfunden, mal angestrengt, mal lustig - eine Marotte, die sie von ihrem Vater übernommen hat. Der wiederum ist ein Ché-Guevara-ähnlicher Professor. Links, charismatisch, gutaussehend und immer auf der Jagd: Seit dem Unfalltod ihrer Mutter reisen Blue und er von einer Kleinstadt-Uni zur nächsten, von einer Frau zur anderen.

Gefühlte 200 Seiten zuviel

Das Motiv für Blues Schreibwut wird gleich zu Anfang genannt: Der mysteriöse Tod einer Lehrerin. Allerdings braucht der Roman 600 Seiten, bis die Fäden des verstrickten Falls zusammengeführt sind - gefühlte 200 Seiten zu viel. Aber die strebsame Blue hat nun mal ihr eigenes Erzähltempo. Jedes Detail wird akribisch beschrieben, manchmal gezeichnet. Selbst wenn neben der Erzählerin auch andere Figuren zu Wort kommen, gibt es keine Außenperspektive. Man ist die ganze Zeit in der merkwürdig-verschrobenen Blue-van-Meer-Welt gefangen. Und natürlich muss man diese Person schon ein bisschen mögen, um ihr 600 Seiten lang zuzuhören. Sie nervt, wenn sie mal wieder nicht auf den Punkt kommt. Sie kann aber auch sehr pointiert und lustig sein, wie sie das Cord-Jacket-tragende Lehrpersonal beschreibt oder die intellektuellen und amourösen Eskapaden ihres Vaters.

Mit Nabokov oder den Büchern von Dave Eggers wurde der Roman verglichen - tatsächlich erinnert er eher an die "Gilmore Girls". Jene Fernsehserie, die im Wesentlichen darin besteht, dass eine attraktive alleinerziehende Mutter unentwegt mit ihrer hochbegabten Ost-Küsten-Uni-Tochter parliert, mal geistreich, mal nicht so. Das einzige, was an dem Roman wirklich ärgert, ist die krude Auflösung der Crime-Geschichte um die tote Lehrerin: Statt des erwarteten Knalls gibt's nur eine lahme Verpuffung. Aber so ist das nun mal mit ehrgeizigen Projekten. Alles gelingt selten.