In der vergangenen Woche gab es in den amerikanischen Medien eigentlich nur ein Thema, und das war die Europa-Reise des US-Präsidenten. Tagelang war Barack Obama groß auf den Titelseiten der Zeitungen zu sehen, ob mit den Kollegen Regierungschefs, der britischen Königin oder seiner Gattin Michelle. Am Samstag jedoch verkam die präsidiale Reise plötzlich zu einer Randnotiz, jedenfalls auf Seite eins des "Boston Globe", der in riesigen Lettern titelte: "Times Co. threatens to shut Globe" - die New York Times Company, Mutterfirma des Blattes, drohe, den "Boston Globe" dichtzumachen. Eine der renommiertesten Zeitungen des Landes mit einer Auflage von rund 380.000 Exemplaren, ausgezeichnet mit 20 Pulitzer-Preisen.
Diese Drohung ist an die Gewerkschaften gerichtet, in der die Mitarbeiter des "Boston Globe" organisiert sind: Die New York Times Company, die auch die "New York Times" herausgibt, will beim "Boston Globe" 20 Millionen Dollar einsparen, unter anderem durch Gehaltskürzungen, was die Gewerkschaften ablehnen. Noch. Sie hätten jetzt 30 Tage Zeit, die Forderungen der New Yorker zu erfüllen, heißt es. Vielleicht ist das Ganze nur ein Erpressungsversuch. Andererseits: Die New York Times Company ist finanziell schwer angeschlagen, sie bemüht sich seit Monaten, den "Boston Globe" abzustoßen, findet aber keinen Käufer für das Blatt, das im vergangenen Jahr 50 Millionen Dollar Verlust gemacht hat - und 2009 gar mit einem Minus von 85 Millionen Dollar rechnen muss, so die neuesten Schätzungen.
Medienbranche nähert sich dem "freien Fall"
Die amerikanische Medienkrise spitzt sich zu. Die Auflage der US-Zeitungen ist im vergangenen Jahr um knapp fünf Prozent gesunken, die Gewinne der Zeitungshäuser sind um 14 Prozent niedriger als 2007 - und um 23 Prozent geringer als im Jahr zuvor. 11.250 Jobs wurden in den vergangenen 24 Monaten gekündigt. In dem kürzlich erschienenen US-Medien-Jahresbericht des "Center for Excellence in Journalism" (CEJ) in Washington wird analysiert, die Branche nähere sich einem Zustand, den man "freien Fall" nennen könne: "Vielleicht werden sich ein paar Fallschirme öffnen, vielleicht werden ein paar Baumäste den Absturz abfedern, aber insgesamt ist im dritten Jahr in Folge kein Ende des Niedergangs zu erkennen", heißt es in dem Bericht.
Die Erlöse brechen weg
Die eine Hälfte der Verluste habe damit zu tun, dass viele Leser abgewandert sind ins Internet und mit ihnen die Kleinanzeigen: Immobilien oder Autos werden kaum noch in Tageszeitungen inseriert; mit diesem Problem kämpfen die Printmedien schon länger. Die andere Hälfte der Verluste aber, und das ist neu, basiere auf der Finanzkrise; der Rückgang der Anzeigen, Bereich Großkunden, habe sich 2008 irrsinnig beschleunigt: "Selbst bei aggressiven Sparmaßnahmen ist es den Zeitungen nicht gelungen, die Kosten so schnell zu senken, wie die Erlöse weg gebrochen sind", so der Bericht des CEJ.
Bald erste US-Großstadt ohne eigene Tageszeitung
Und nun ist Chicago die erste amerikanische Großstadt mit zwei insolventen Zeitungen: Die Mutter der "Chicago Sun-Times", die Sun-Times Media Group, beantragte vergangene Woche bei einem Gericht Gläubigerschutz; man wolle sich über das Insolvenzverfahren im Laufe des Jahres sanieren, ein paar Tochterunternehmen verkaufen, heißt es. Der Grund dafür seien die Anzeigenflaute und die sinkenden Auflagen.
Nicht viel besser geht es der "Chicago Tribune", die zu Tribune Co gehört, einem Chicagoer Unternehmen, das auch die "Los Angeles Times" besitzt und sich schon länger durch ein Insolvenzverfahren kämpft. Seitdem wurde die eh schon mächtig geschwächte Redaktion der "Los Angeles Times" noch einmal um 30 Prozent reduziert. Immerhin: Die Zeitung lebt noch. Anders als die "Rocky Mountain News" in Colorado, die eingestellt werden musste. Wie die "Kentucky Post". Und die "Capital Times" in Wisconsin. Oder der "Seattle Post-Intelligencer".
Dass kleinere Blätter sterben, gehört in der amerikanischen Medienlandschaft inzwischen zum Alltag. Dass aber die "New York Times", das mächtige Flaggschiff der US-Zeitungsbranche, heute künstlich beatmet wird, daran mag sich niemand so richtig gewöhnen. Am wenigsten die Mitarbeiter der Zeitung selbst. Sie bekommen eine Gänsehaut, wenn sie daran denken, dass jetzt ein etwas seltsamer mexikanischer Milliardär in ihrem großen Boot sitzt: Carlos Slim, zweitreichster Mann der Welt, der im vergangenen September 6,9 Prozent des Medienkonzerns erwarb und dem verschuldeten Verlag dann noch einen Kredit von 250 Millionen Dollar gewährte, mit gewaltigen Zinsen und der Option auf Vorzugsaktien.
Demnächst Online-Abos für Zeitungsinhalte
Bei der "New York Times" denken sie inzwischen wieder darüber nach, im Internet Geld für ihre Artikel zu verlangen - gut eineinhalb Jahre, nachdem das Blatt sein altes Bezahl-Modell gekippt hatte. Man beendete damals ein Programm, bei dem versucht wurde, Archivtexte und Artikel von Kolumnisten nur für Abonnenten kostenlos ins Netz zu stellen; alle anderen Leser sollten dafür rund 50 Dollar im Jahr zahlen. Doch der Plan ging nicht auf. Neulich aber sagte Bill Keller, Chefredakteur der "New York Times", dass es nun wieder "eine lebendige Diskussion" gebe, "wie wir unsere Konsumenten dazu bringen können, für das, was wir tun, zu bezahlen." Mit Online-Abos für den ganzen Zeitungsinhalt. Und einem Modell, bei dem die Kunden für jede angeklickte Seite ein paar Cent zahlen. Doch warum sollten die plötzlich für etwas Geld ausgeben, das sie zuletzt umsonst bekamen?
Fehlende Anzeigen lassen sich nicht durch Online-Werbung kompensieren
Im Jahr 2008 informierten sich erstmals mehr Amerikaner im Internet als in den gedruckten Zeitungen. Nachrichten seien ihnen wichtig, sagen die Amerikaner. Doch sie wollen immer weniger dafür bezahlen - auch das ergab der Bericht des CEJ: Der Versuch von Verlagen, im Internet die Verluste aufzufangen, die Zeitungen wegen sinkender Auflagen und zurückgehenden Anzeigen erleiden, habe sich zu "einem verzweifelten Bemühen entwickelt". Das Online-Geschäft wächst nicht wie erwartet - jedenfalls nicht so, dass Zeitungen fehlende Anzeigen durch das Internet kompensieren könnten. Dafür sind Online-Anzeigen vergleichsweise zu billig. Es gibt wenige Ausnahmen - wie das "Wall Street Journal", das seine Texte schon sehr lange online verkauft, sehr konsequent und darum erfolgreich; kaum ein Nutzer kennt das dort anders.
Die meisten Verlage aber hätten noch kein Konzept gefunden, um die Zeitungskrise zu meistern, und ihnen bleibe "immer weniger Zeit, ein neues Geschäftsmodell zu entwickeln und die finanzielle Zukunft zu sichern", so schreiben es die Medienwissenschaftler. Bei der "New York Times" heißt es, man verdiene ein paar Taler an Texten, die Kunden mit elektronischen Lesegeräten empfangen: dem Kindle von Amazon. Es beschere der Zeitung aber nur "bescheidene" Einnahmen, so Chefredakteur Keller. Noch.
Kindle als Zukunftshoffnung umstritten
Denn neuerdings schrauben sie alle an einem dem Kindle ähnlichen Teil herum, die Zeitungen und die Magazine. Alle wollen sie als erste auf den Markt kommen mit einem Gerät, auf dem Zeitungs- oder Magazinseiten ganz und gar großartig zu lesen sind, in augenfreundlicher Größe und weltbester Auflösung. Das sei die Zukunft, glaubt man nun, aber die kann kein Printobjekt allein erfinden, dafür braucht es die Hilfe eines elektronischen Konzerns.
Aber wer gibt schon seine Inhalte gern in die Hände von jemand anderem? Ist es vorstellbar, dass es die "New York Times" oder das "Time Magazine" in gedruckter Form nicht mehr gibt, sondern nur noch virtuell, auf Geräten von Apple, Sony oder wem auch immer? Was soll das kosten - und wer wird wie viel daran verdienen? Zeitungen, Zeitschriften leben auch davon, dass sie weiter gereicht werden. Doch welcher Käufer gibt ein Gerät aus der Hand, für das er 800 Dollar bezahlt hat, so der geschätzte Preis? Niemand weiß, was funktioniert - und ob man sich am Ende nicht selbst schadet.
Seit vergangener Woche liefern die "Detroit Free Press" und die "Detroit News" ihre Zeitungen nur donnerstags und freitags. Die Abonnenten in Detroit können sich ihre Zeitungen schließlich auch am Kiosk kaufen oder die "Free Press" und die "News" online lesen, glaubt man. Die Sparmaßnahme soll beiden Blättern helfen, die Wirtschaftskrise zu überleben, kam aber nicht besonders gut an. So klagt Nancy Nester, 51, berufstätig, die beide Tageszeitungen nach Hause bestellt hatte: "Ich habe keine Zeit, mir irgendwo eine Zeitung zu kaufen - darum hatte ich sie ja abonniert." Und Carol Banas, 56, Rentnerin, die ihre "Free Press" vermisst, sagt: "In meinem Alter möchte man seine Zeitung in der Hand halten. Und nicht im Internet aufrufen müssen."
Wo ist die goldene Idee? Liegt sie im Internet? Es gibt Beispiele, die sagen: ja. Und Beispiele, die sagen: nein. Sicher ist nur, dass niemand mehr sicher ist.