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William Gibson Chefsekretär des Zeitgeistes

Er erdachte den Cyberspace, bevor man ihn programmieren konnte. Doch William Gibsons neues Buch ist kein Zukunftsroman: Die Gegenwart ist Science-Fiction genug.
Von Stephan Maus

In einem Gibson-Roman stündest du jetzt irgendwo im Herrschaftsgebiet der Tokioter Nudelsuppenmafia vor einer Tür mit einer strahlensicheren Titan-Platin-Legierung und würdest von einem biometrischen Körperscanner erfasst. All deine kodierten SMS der letzten Wochen wären von einem russischen Hacker abgefangen und mithilfe einer taiwanesischen Entschlüsselungssoftware geknackt worden. Schließlich würdest du von einer holografischen Schriftstellersimulation eingelassen - aber nur mit sehr viel Glück.

Doch du bist nicht in einem Roman von William Gibson. Du stehst in Vancouvers Villenviertel vor Gibsons Haus, einem verspielten Holzbau mit architektonischen Versatzstücken aus Mittelalter und Renaissance. Eine Messingplakette am Eingangstor adelt das Haus als kanadisches Kulturerbe und datiert es aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Man staunt, dass die Postmoderne schon so viel älter ist, als man dachte. Bei Gibson hat die Postmoderne nicht einmal eine Klingel. Nur einen schweren Messingklopfer.

"Quellcode"

William Gibson: "Quellcode", Ü: Stefanie Schaeffler, Klett-Cotta, 22,50 Euro

Nachdem man dreimal geklopft hat, tritt aus diesem pseudo-mittelalterlichen Knusperhäuschen der Vater des Cyberspace höchstpersönlich. 1982 erfand Gibson in seiner Kurzgeschichte "Burning Chrome" den Begriff und das Konzept "Cyberspace". Heute fördert Google knapp zehn Millionen Treffer zutage für jenen Begriff, der schon bei Gibson ein computersimuliertes Universum beschreibt, in das sich vernetzte Nutzer einloggen.

1984 veröffentlichte Gibson seinen legendären Roman "Neuromancer", der den Programmierern den Datenhighway in die digitale Wildnis wies und ihnen ihre Mythen und ihre Ästhetik schenkte.Erst fünf Jahre später entwickelte der britische Informatiker Timothy John Berners-Lee mit dem HTML-Standard das Werkzeug, mit dem man diesen mysteriösen Cyberspace überhaupt erst konstruieren konnte. In "Neuromancer" schuf Gibson mit seinem "Konsolen-Cowboy" Case den Typus des rebellischen Hacker-Bohemiens, der versucht, sich im Datenraum gegen die Macht obskurer Großkonzerne durchzusetzen. Der Roman vermischte bekannte Science-Fiction-Muster und die No-Future-Haltung der Punks. So entstand das neue Genre "Cyberpunk", das die Lieblingslektüre aller Netz-Architekten wurde. Underground traf Hightech.

"Neuromancer und Cyberpunk"

Für den Beat-Guru Timothy Leary ist "Neuromancer" das Neue Testament des 21. Jahrhunderts, während das Alte Thomas Pynchons "Gravity’s Rainbow" ist. Vor Gibson waren Programmierer gestörte Vögel, die mit Pizza und Cola vor ihrem Bildschirm vereinsamten. Rückblickend sagt der 60-Jährige: "Ich aber gab den Leuten, die mit Computern arbeiteten, die Möglichkeit, sich als cool zu betrachten. Ich steckte meine Hacker in schwarze Lederjacken, gab ihnen interessante Haarschnitte und ein problematisches Sexualleben. Sie wurden Rock ’n’ Roll."

Einer der erfolgreichsten Science-Fiction- Autoren der Gegenwart rekapituliert seine Wirkungskraft so zögernd, als müsste ihm ein unausgereiftes Spracherkennungsprogramm folgen. So bescheiden sich dieser Mann gibt, so sehr hat er die Popkultur geprägt. Ästhetik und Plot der Kino-Trilogie "Matrix" gehen größtenteils auf den gebürtigen Amerikaner zurück. Sein Einfluss auf Design und Mode ist beachtlich. Das kann selbst er nicht leugnen: "Cyberpunk ist ein bestimmter Ton auf der Farbskala geworden. Man kann heute eine Hose entwerfen und sagen: "Die brauchte noch etwas mehr Cyberpunk."

Und was ist das cyberpunkigste Kleidungsstück an ihm selbst? Er zeigt auf seine Retro-Turnschuhe: "Die da kommen dem Cyberpunk wohl am nächsten. Wahrscheinlich, weil es ein klassisches Design aus den Dreißigern ist, das ans Archaische grenzt. Ein altes Design, das bearbeitet wurde, um gleichzeitig Primitivismus und Futurismus zu beschwören." Nicht einmal ein Turnschuh ist vor Gibsons Zeitgeist-Scanner sicher. Müssten "Second Life" oder "Youtube" oder Online-Spiele wie "World of Warcraft" Urheberrechte an ihren Ideengeber abführen, kämen zu den Erlösen aus 6,5 Millionen verkauften "Neuromancer"- Exemplaren noch ein paar Millionen Dollar aus dem Silicon Valley.

Aber Gibson kennt keinen Neid. Die Recycling-Philosophie des Netzes bestimmt auch das Denken seines Propheten: "Ich sehe immer das Ausmaß, in dem ich kulturelle Produkte anderer genutzt habe, um meinen Kram zu köcheln. Wenn jetzt Leute kommen und ihren Kram mit meinem Kram köcheln, denke ich nicht: "Die haben mich ausgenommen!"

Gibson war schon immer leidenschaftlicher Wiederverwerter. Brauchte er als junger Mann Geld, zog er durch Trödelläden der Heilsarmee, kaufte verstaubten Plunder und verkaufte ihn an Sammler. Auf diese Weise näherte er sich später auch der Science-Fiction. Wo andere nur Trödel sahen, begriff er den Wert des Genres. Man musste es nur ein bisschen aufpolieren: "1977 kaufte ich mir einen Stapel zeitgenössischer amerikanischer Science-Fiction- Geschichten. Es war entsetzlich. Das war, als wäre ich mit der guten Erinnerung an authentische amerikanische Countrymusik der Vierziger in einen Plattenladen gegangen und hätte einen Haufen ollen Nashville-Country bekommen. Aber dann begriff ich, dass das gut für mich war. Das war Pop-Art im Niedergang! Es war, als hätte ich irgendwo ein verlassenes Postgebäude gefunden, das ein hervorragender Platz für eine Party sein könnte."

Analyst der Gegenwart

Gibsons Party sollte wild werden. Und viele sollten mitfeiern. Der Cyberspace war für ihn die Chance, die verstaubte Science-Fiction aus dem All hinein in die Büros zu holen. Wie die Technik funktionierte, war ihm egal. Sollten andere programmieren. Er hatte seinen Zeitgeist-Scanner. Das reichte. Obwohl seine Romane mit mehr technischen Spielereien aufwarten als die Cebit, hatte Gibson nie den Ehrgeiz, Hacker zu werden. Wenn Technik nicht funktioniert, verpasst er ihr einen Tritt. Gibson sieht sich nicht so sehr als Prophet, sondern als Analyst der Gegenwart. Nicht einmal das Handy habe er vorausgesehen. Auch die Allgegenwart des Netzes habe er nicht ahnen können: "In "Neuromancer" findet man nicht die alte Dame in Kansas, die ihr Früchtekuchen-Rezept ihrer Tochter in München mailt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das Netz alles kolonialisieren würde." Selbst wenn sich die digitale Zukunft in Details anders entwickeln sollte, als er es sich vorgestellt hatte, im Kern trafen seine Visionen ins Schwarze. Das weiß auch er: "Wenn ich mir heute ‚Neuromancer‘ anschaue, drohen über allem die unerreichbaren Finanz- und Geld-Ebenen. Und das ist inzwischen wohl die Wirklichkeit."

Obwohl der Cyberspace anfangs ein Raum der Freiheit war, schwebte über ihm schon immer eine düstere Macht. So hat Gibson seine Hightech-Visionen immer an archaische Gesellschaftsstrukturen und Stammesriten gebunden. Brandneu geht hier mit Uralt einher. Selbst beim Schreiben: "Neuromancer" schrieb er nicht etwa auf einem der ersten PCs, sondern auf einer uralten Schreibmaschine. "Ich habe diese Maschine immer noch. Ein Modell aus den Zwanzigern. Wie ein Schweizer Uhrwerk. Sehr kompakt. Hemingway-Tradition."Seit dem 11. September schreibt er keine Science-Fiction mehr. Die Gegenwart ist ihm Science-Fiction genug. In seinem neuen Roman "Quellcode" beschreibt er die Paranoia in den Zeiten von Globalisierung und Terror und verarbeitet sie zu einem rasanten Polit-Thriller. Vordergründig handelt der Roman von GPS-Kunst: Programmierer simulieren an bestimmten Koordinaten Kunstwerke, die der Betrachter nur mit einer Spezialbrille betrachten kann. Gibsons Diagnose: Wir gehen nicht mehr in den Cyberspace, sondern der Cyberspace besetzt den öffentlichen Raum.

Der Feind wohnt in deinem iPod

Gibson benutzt diese GPS-Kunst, um mit Thriller-Mustern zu spielen. In drei parallelen Plots zeigt er moderne Bohemiens: Hollis Henry ist Ex-Rock-Sängerin und heuert beim Trendmagazin "Node" an, für das sie eine Geschichte über GPSKunst schreiben soll. Tito gehört zu einer kubanischen Mafia-Familie und kennt die Straße wie kein Zweiter. Milgrim ist eine drogenabhängige Geisel in den Händen eines mürrischen Agenten, für den er russische SMS entschlüsseln muss. Die drei werden von undurchsichtigen Mächten dazu benutzt, einen auf den Weltmeeren umherirrenden Container mit mysteriösem Inhalt zu orten, hinter dem Profiteure des Irak-Kriegs und ihre Gegner her sind. Wie in allen vorangegangenen Romanen Gibsons setzt sich der Thriller aus ebenso vielen Genre-Zitaten zusammen wie sein Holzhaus aus Architektur-Versatzstücken. Wieder spürt Gibson den Strömungen der Alltagskultur nach. Der Roman quillt über vor Marken-Referenzen. Er zeigt, wie wir ein Zeichensystem von Marken und Dingen um uns spinnen, in denen wir ebenso gefangen sind wie Gibsons Figuren in den undurchsichtigen Machenschaften des Big Business.

Das Internet, das bei Gibson 1.0 aus den 80er Jahren noch ein Raum der Rebellion und des Widerstands war, ist bei Gibson 2.0 inzwischen zum Werkzeug fein abgestimmten Marketings geworden. Mithilfe der rebellischen Konsolen-Cowboys von einst hat es sich vor allem zu einem effizienten Werbekanal entwickelt, der die coolsten Kampagnen transportiert. Kaum ein Autor spürt so unterhaltsam und so leicht den amerikanischen Verwirrungen nach. Den Zustand der US-Gesellschaft beschreibt Gibson als "kalten Bürgerkrieg". Noch immer ist er fasziniert von den Hightech-Oberflächen und den darunter schlummernden Trieben und Ängsten. Der Feind wohnt in deinem iPod. Die Guerilla ist zum Marketing übergelaufen. So liefert "Quellcode" die Matrix des ganzen Gibson: All die Hightech-Gadgets spielen ein Konzert uralter Melodien. Diese spezielle Mixtur durchdringt bei Gibson noch die banalsten Alltagsphänomene: Beim Abschied klingelt Gibsons Handy. Der Visionär der Zukunft hat einen Klingelton gewählt, der sich anhört wie das schrille Läuten im engen Kabuff eines Telefonoperators.

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