Santa Monica, Hotel Shutters On The Beach: luxuriöse Suiten mit Blick auf den Pazifik. Eines Tages checken hier ungewöhnliche Gäste ein. Spitzenwissenschaftler, Künstler, Umweltexperten, Philosophen. Die hellsten Köpfe Amerikas rauchen drei Tage lang über einem großen Thema: die Welt im Jahre 2054. Welche Autos werden wir fahren, wie kaufen wir ein, wie können wir sicher leben? Eingeladen hatte weder das Weiße Haus noch Microsoft, sondern ein ergrauter Mann mit Brille und Bart, der was von einem Märchenonkel hat.
Was bei dieser Konferenz der Schlaumeier im April 1999 herauskam, welches Märchen Steven Spielberg diesmal erzählt, kann man jetzt im Kino überprüfen. Aber Achtung: »Minority Report« ist keine Gutenachtgeschichte à la »E.T.«, sondern ein düsterer, verzwickter Actionthriller, der in zweieinhalb Stunden über die Zukunft berichtet und dabei eine der ältesten Storys der Welt erzählt - ein Mann auf der Flucht muss seine Unschuld beweisen.
Spielberg tat sich dafür mit Tom Cruise zusammen - allerdings ist der wahre Held des Films nicht John Anderton alias Cruise, der als Chef einer Spezialeinheit dank dreier Hellseher Morde verhindern kann, bevor sie überhaupt geschehen. Die Hauptrolle spielt die mit 445 Spezialeffekten optisch überwältigend umgesetzte Welt des Jahres 2054, genauer gesagt Stadt und Umgebung der US-Kapitale Washington.
»Steven wollte keinen Science-Fiction-Film machen, sondern einen Future-Reality-Film«, sagt Produktionsdesigner Alex McDowell. Und so beruhen die erstaunlichen Zukunftstechnologien auf tatsächlichen Forschungsprojekten der Gegenwart.
Manche, mault der Wissenschaftler Jaron Lanier, seien sogar schon wieder überholt: So trägt Anderton gleich zu Beginn des Films einen Handschuh mit Lichtpunkten an den Fingerkuppen.
Damit navigiert er sich durch Videos, die auf einen Flachbildschirm projiziert werden. So einen Cyberhandschuh hat Lanier, Schöpfer der »Virtual Reality« und Teilnehmer von Spielbergs Konferenz, bereits erfunden: »Man kann schon heute mit der bloßen Hand einen Mauspfeil steuern.« Dazu nimmt eine Videokamera die Bewegungen auf, und eine Software übersetzt sie dann auf den virtuellen Schreibtisch.
In einer der gefühligsten Szenen des Films betrachtet Anderton später holografische Aufnahmen seiner Frau, die ihn nach dem Tod des gemeinsamen Sohnes verlassen hat. Auch solche 3-D-Bilder, die sich ohne die albernen Spezialbrillen entfalten, sind technisch bereits machbar, wenngleich nur auf einfachem Niveau. Lanier träumt von einer neuen Generation von Computern, bei denen sich Menschen scheinbar zum Greifen nah als Hologramme gegenübersitzen. Im Film werde die Technik nur zum Videoglotzen benutzt, kritisiert er. Und selbst die Handys der Zukunft seien nur auf Hörgerät-Größe geschrumpft, dabei würden schon jetzt Mobiltelefone als Zahnimplantat entwickelt.
Die Polizisten, die Anderton einfangen wollen, kommen nicht in der grünen Minna, sondern per »Jetpack«. Solche Raketenrucksäcke kannte man bisher nur von den Weltraumspaziergängen der Space-Shuttle-Astronauten, von den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles - und aus Computerspielen. Ingenieure der Firma Bell Aircraft entwickelten in den sechziger Jahren den ersten echten Raketengürtel, heute arbeitet das Unternehmen Millennium Jet an einer Art persönlichem Hubschrauber, der in Computersimulationen höher als zwei Kilometer steigt.
Andertons Häscher hantieren zudem mit ultramodernen Waffen, die den Gegner mittels Schallwellen außer Gefecht setzen, aber nicht töten. Solche Akustikwaffen haben die USA wahrscheinlich bereits in Afghanistan eingesetzt. Bei geringen Stärken bewirken die Schallkanonen Unwohlsein und Erbrechen, werden sie lauter, kommt es zu inneren Blutungen, die Lungen platzen. Auch in Deutschland wird am Fraunhofer Institut für Chemische Technologie in Pfinztal an Akustikwaffen und anderen nichttödlichen Gefechtsmitteln gearbeitet. Dazu zählen auch Röhren mit intensivem Blitzlicht, die beim Betrachter Übelkeit erzeugen. Im Film gibt es einen »Sick Stick«, den der Bösewicht bei Berührung im wahrsten Sinne des Wortes zum Kotzen findet.
Den Mitarbeitern eines anderen Fraunhofer Instituts, dem für Autonome Intelligente Systeme in Sankt Augustin bei Bonn, kommen die kleinen Spinnenroboter des Films vertraut vor. »Wir bauen selbst solche Laufmaschinen«, sagt Institutsleiter Thomas Christaller. »Und es ist viel härter, als viele gedacht haben, Spinnen oder Käfer als Roboter nachzubauen. Schauen Sie sich nur mal einen Skorpion an. Wie schnell der läuft, und die Spalten im Panzer dienen ihm als Erschütterungssensor. Da fällt Ihnen nichts mehr ein.« 1994 hatte die renommierte Carnegie-Mellon-Universität in Pittsburgh einen achtbeinigen Roboter gebaut, um einen Vulkankrater in Alaska zu untersuchen. Er stürzte nach wenigen Metern ab.
Was den Verkehr der Zukunft angeht: Das sei »nicht wirklich visionär«, so Verkehrsforscher Dieter Chemnitz. Im mächtig in die Höhe gewachsenen Washington anno 2054 bewegen sich Vehikel wie der Transrapid - auf Magnetfeldbahnen, die sich am Boden und an Fassaden langziehen, das Ganze rasend schnell und kollisionsfrei. Schon Jules Verne ließ Ende des 19. Jahrhunderts in einem Roman Aerotaxis mit 600 km/h sausen. Der im Auftrag von Daimler-Chrysler in Berlin forschende Ingenieur Chemnitz träumt von fliegenden Autos - wie etwa im Bruce-Willis-Film »Das Fünfte Element«. Er hält aber nur eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 30 km/h für realistisch: »Je schneller wir uns bewegen, desto größer werden die nötigen Sicherheitsabstände.« Ein Riesenrechner wäre nötig, um den Verkehr zu steuern, gibt sein Daimler-Chrysler-Kollege Thomas Waschke zu bedenken.
Der Verkehrscomputer im Film kann sogar Andertons Auto fernsteuern, als der auf die Fahndungsliste gerät. Preis dieser lückenlosen Kontrolle und absoluten Sicherheit: Der Einzelne besitzt keine Privatsphäre mehr. Pausenlos scannen Kameras seine Augen und stellen so die Identität fest und gleichzeitig den Aufenthaltsort.
Elektronische Iris-Erkennung existiert bereits seit einigen Jahren. Bei so genannten biometrischen Verfahren nimmt man unveränderliche Merkmale von Personen auf - Fingerabdruck, Stimme oder eben die Iris - und vergleicht sie mit einer gespeicherten Datenbasis. Stand der Dinge: Eine Person, deren Iris überprüft wird, muss still und nahe an der Linse stehen. Hochauflösende Kameras, die Individuen aus einer Menschenmenge heraus identifizieren, sind jedoch laut Biometrie-Experte Henning Arendt in zehn bis 20 Jahren durchaus denkbar. Pilotprojekte existieren bereits: Am Amsterdamer Flughafen können sich Frequent Traveller untersuchen lassen, in Bayern werden der Flughafen Nürnberg und der Grenzübergang Waidhaus nach Tschechien beäugt. Die relativ teure Iris-Biometrie ist nicht fehlerfrei: Schon mit Fotos kann man die maschinellen Überwacher austricksen.
Wie ein feuchter Traum aus der Hochphase des Internet-Hypes mutet der Werbeterror im Film an. Betritt Anderton einen Klamottenladen, fragt ihn der virtuelle Verkäufer sofort, wie er mit dem Dreierpack T-Shirts zufrieden war. Auch auf der Straße erkennen ihn animierte Plakate an seinen Augen und sprechen ihn direkt an: »Jetzt ein Guinness - wär das nicht was?« Zumindest das Prinzip der personalisierten Werbung könnte schon im nächsten Jahr mit den klugen UMTS-Handys auf uns zukommen - Videoclips könnten ungefragt auf dem Display losplärren.
Genauso kontraproduktiv, weil nervtötend, könnte die interaktive, sich ständig aktualisierende Zeitung sein, die U-Bahn-Fahrer in »Minority Report« lesen. Wo eben noch der Aufmacher zu sehen war, erscheint plötzlich der Steckbrief von Anderton. Wie würde wohl der »Bild«-Leser reagieren, der gerade die nackte Titelmaus begutachtet und plötzlich Osama bin Laden erblickt?
Tröstlich bleibt am Ende, dass auch in der Welt von »Minority Report« das System fehlbar ist. Wegen des größten anzunehmenden Sicherheitsrisikos: des Menschen. Im Film vergisst ein Sicherheitsmitarbeiter die Daten des geflohenen Anderton zu löschen, sodass dieser fast problemlos an seine alte Arbeitsstelle kommt.
Beim Treffen Spielbergs mit seinem Kompetenzteam lief die Hollywood-Maschine ebenfalls nicht rund. Als Jaron Lanier eintraf, fragte er nach dem Raum für das Brainstorming. Der Rezeptionist sagte: »Sie wollen sicher zur Augenoptikertagung.« Lanier war nur kurz verwirrt: »Die Filmfirma wollte das Treffen geheim halten, hatte aber vergessen, allen Teilnehmern das Codewort mitzuteilen.«
Dirk Liedtke/Matthias Schmidt