"Mein Herz schlägt ganz doll", sagte Nina Hoss. "Das wird langsam alles ein wenig viel". Eine so verdutzte Preisträgerin hat man selten gesehen. Für die Darstellung der "Yella" bekam Nina Hoss den Silbernen Bären überreicht. "Ich dachte ganz sicher, Marianne Faithfull würde hier stehen. Das hätte ich ihr gegönnt", ist ihr zweiter Kommentar.
Mit dieser Ansicht befindet sich Nina Hoss in guter Gesellschaft mit den Festivalbesuchern. Selten gab es so wenig Filme, die einen bewegten, mitrissen oder gar zum Lachen brachten. Reihenweise flüchtende Kinobesucher waren ein nicht unüblicher Anblick bei dieser Berlinale. Spontane Spaßausbrüche eine rare Ausnahme. Umso höhere Bedeutung gewinnt dieser Dienstagnachmittag an dem "Irina Palm" gezeigt wurde mit Marianne Faithfull als wichsende Witwe, die in klobigen Schuhen und mit dem Putzkittel in der Tasche durch London stiefelte, um in einem Sexclub das Geld für die Behandlung ihres kranken Enkels zu er"wichsen". Auch an diesem Tag verließen einige Leute in Windeseile das Kino. Allerdings nicht aus Protest oder Langeweile, sondern um als potentieller Käufer des Films möglichst schnell ihr Gebot loszuwerden.
Der Film mit dem größten Einschlaf-Faktor gewinnt
Es scheint sie wirklich zu geben, diese Berlinale-Formel. Als ungeschriebenes Gesetz, das von Jury zu Jury weitergegeben wird, ganz im Geist von Festivalleiter Dieter Kosslick. Siegerfilme sind die, die es garantiert in kein Kino schaffen und die sogar auf der Berlinale keiner gesehen hat. Weil sie immer um 9 Uhr morgens laufen. Weil sie künstlerisch wertvoll, aber nicht schmerzfrei konsumierbar sind. So wie im vergangenen Jahr "Grabvica". Dieses Mal kam noch erschwerend dazu, dass es sich um den 9-Uhr-Samstagmorgen-nach-der-Freitags-Party-Nacht-Film handelte. "Tuyas Ehe" heißt der diesjährige Bären-Gewinner aus China über den Überlebenskampf einer Bauernfamilie in der Mongolei. Nicht mal die wackersten und idealistischen der Filmkritiker haben die endlosen Schwenks über Steppenwüsten ohne Kurzschlafattacken überstanden. Große Kunst fordert eben bedingungslose Hingabe und vollste Konzentration.
Es ist eine gewitzte Doppelstrategie, die aus fast dem jedem Teilnehmer einen Sieger macht. Gib dem Volk Brot und Spiele, die Blanchetts, Lopez' und Diane Krugers dieser Welt sorgen für die Show, für Glanz und Glamour, wenn sie mit Brillianten behängt und in Stardesigner-Fummel gehüllt über die Roten Teppiche defilieren und Futter für die Klatschpresse bieten. Deren Filme haben sowieso schon einen Platz in den Cinedomes dieser Welt. Und so fällt durch die unkonventionelle Preisauswahl ein bisschen von dem Rampenlicht auch für die Ethnofilmer dieser Welt ab, die den langen Weg aus Argentinien, China oder Korea angetreten sind, um in Berlin dabei zu sein. Und gerne auch mal Innovationen im Gepäck haben. So wie "I'm a cyborg and it's okay", für den der koreanische Regisseur Park Chan-Woo den Alfred-Bauer-Preis einpacken konnte und damit seine mäkelnde Frau trosten kann, die demnächst wohl trotz des unsteten Berufs ihres Mann ihn sagen lassen wird: "Ich bin ein Regisseur, und das ist okay".
Während also all die anderen Filme, die nicht bedacht wurden, "Irina Palm", "Die Fälscher", diese aberwitzige Realitätsgeschichte über Gelddrucker im KZ oder Jiri Menzels bourleske Aufsteigerkomödie "Ich habe den englischen König bedient" ihren Preis an der klingelnden Kinokasse abholen werden, ist eine Perle wirklich übersehen worden: "Das Jahr als meine Eltern in Urlaub gingen", ein großartiger Film aus Brasilien über einen fußballfanatischen Teenager vor dem Hintergrund der Militärdiktatur 1970, hätte auf jeden Fall noch eine Auszeichnung verdient. Aber wahrscheinlich war er nach der Berlinale-Formel einfach zu unterhaltsam, auch wenn es um Politik ging.
Dem Antikriegs-Werk "Beaufort" über die letzte israelische Festung im Libanon den Silbernen Bären für die beste Regie zu geben, ist ein schönes Statement. Aber warum es gleich zwei Bären für das langatmige argentinische Psychodrama "El Otro" sein mussten, den Silbernen für die männliche Hauptrolle für Javier Chavez und den Großen Preis der Jury für den Regisseur Ariel Rotter, erschließt sich auch beim besten Willen nicht. Einer hätte es auch getan. Aber mit Begründungen für ihre Entscheidung hat sich die Jury nicht aufgehalten.
Frankreich ohne Bärchen
So kann auch Nina Hoss nur vermuten und sich freuen, dass die Reduktion des Ausdrucks, mit der sie ihre Yella gespielt hat, gewürdigt wurde. Gefühlskino mit expressionistischem Vollkörpereinsatz und Wandlungsfähigkeit konnten die Jury unter dem Vorsitz von Schrader nicht beeindrucken. Als die großen Verlierer gingen die Franzosen aus der Berlinale. Mit vier Filmen angetreten gingen sie mit keinem einzigen Preis nach Hause. Marion Cotillard, auch als Favoritin gehandelt, verlieh der Edith Piaf sowohl als 18-Jährige Straßensängerin, 30-jährige Diva und 47-jährige Greisin überzeugend Gesicht und Gestalt auf der Leinwand und musste sich mit der Ehre, im Eröffnungsfilm aufgetreten zu sein, begnügen.
Ein Zugeständnis an die Kritikermeinung gab es immerhin: Die bei den Kritikern hoch gehandelte Hollywood-Produktion "Der gute Hirte" bekam ein Bonbon, den Preis für die beste Ensemble-Leistung. Und so stand noch eine zweite deutsche Schauspielerin an diesem Samstagabend im Blitzlicht der Fotografen. Stellvertretend für das Team aus Matt Damon, De Niro und all die anderen hat Martina Gedeck den Bären eingepackt. Eine Nacht wolle sie mit ihm verbringen, bevor sie in weiter an Regisseur Robert De Niro schicken wird. Und wir nehmen uns wie jedes Jahr wieder nehmen vor, im nächsten Jahr garantiert keine der 9-Uhr-Vorstellung zu verpassen.