Andrea Sawatzki wirkt regelrecht froh, als man sie auf dem roten Teppich der Berlinale-Eröffnung zu ihrer Haltung befragt. Das ist bei heiklen Themen wie dem Krieg im Nahen Osten nicht selbstverständlich. "Wir dürfen nicht vergessen, dass immer noch unschuldige Menschen, ganz besonders jene, die sich für den Frieden eingesetzt haben, in Geiselhaft der Terroristen sitzen", sagt sie. Gemeinsam mit der Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal hielten Sawatzki, ihr Ehemann Christian Berkel sowie Ulrich Matthes und weitere Berlinale-Gäste Porträts der israelischen Hamas-Geisel David Cunio in die Kameras.
Berlinale-Künstler Cunio sitzt in Geiselhaft der Terroristen
Der israelische Schauspieler Cunio war 2013 mit einem Film Gast der Berlinale, seit dem schicksalhaften Terrortag am 7. Oktober 2023 befindet er sich mit ungewissem Schicksal in Geiselhaft der palästinensischen Terroristen. Dass im Vorjahr an sein Schicksal mit keinem Wort gedacht wurde, stattdessen zweifelhafte anti-israelische Statements auf der Bühne Gehör und beim Publikum Applaus fanden, geriet zum Skandal.
Die neue Berlinale-Chefin Tricia Tuttle lässt diesbezüglich keinen Interpretationsspielraum, auch sie posierte mit einem Bild Cunios mit der Aufschrift "Bring David Cunio Home". In diesem Jahr wird ein Film über Cunio im Programm sein: "Michtav Le'David. A Letter to David". Die neue Präsidentin hatte auch angekündigt, sich für das Versäumnis der Vorgänger bei der Familie zu entschuldigen.
Tricia Tuttle wagt den Spagat
Gleichzeitig wurde von Beginn an klargestellt, dass Gegenpositionen ausdrücklich erlaubt und gar willkommen seien. Alle Gäste und Künstler müssten die Möglichkeit auf freie Meinungsäußerung im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen haben, gab die Berlinale als Losung aus. "Wir stehen zum Recht unserer Filmemacher, über die Impulse hinter ihrer Arbeit und ihre Erfahrungen mit der Welt zu sprechen", heißt es im Statement des Festivals. "Die Berlinale begrüßt unterschiedliche Standpunkte, auch wenn dies zu Spannungen oder Kontroversen führt." Gleichzeitig wolle man eine Umgebung schaffen, "in der wir einander zuhören und voneinander lernen können, und wir bitten um einen respektvollen Dialog und eine gewisse kulturelle Sensibilität".
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Tricia Tuttle versucht den großen Spagat, vielleicht auch, weil die US-Amerikanerin gar keine andere Möglichkeit hat. Schließlich sind Berlinale-Promis wie Ehrenbär-Preisträgerin Tilda Swinton für ihre umstrittenen Positionen zu Israel bekannt. Die britische Schauspielerin sagt dann auch, das Kino sei "ein unbegrenztes Gebiet, unempfänglich gegenüber Bestrebungen der Besetzung, Kolonisierung, Übernahme, des Besitzes oder der Entwicklung von Riviera-Grundstücks-Landbesitz."
Es ist ein riskantes Wagnis. Unter den Filmschaffenden, die aus aller Welt anreisen, sind wie auch im Vorjahr nicht nur Israel-Kritiker, sondern auch Unterstützer der BDS-Kampagne, die sich für einen umfassenden Boykott Israels im Bereich von Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft einsetzt, darunter ausgewiesene Antisemiten. Der seit Jahren schwelende Konflikt zwischen extremen Positionen linker Künstler und der deutschen Staatsräson wird auch in diesem Jahr wiederkehren. Mit ihrem Toleranzbegriff verlässt Tuttle jedenfalls deutlich den Rahmen des vom Deutschen Bundestag beschlossenen Antisemitismusbegriffs, der die Verurteilung des israelischen Staates als jüdische Gesamtheit, ohne Ausnahme verdammt.
"Der Hamas-Terror richtet sich gegen die gesamte freie Welt"
"Es ist ein wichtiger Schritt, dass bedeutende Schauspieler wie Sawatzki, Berkel oder Matthes eindeutig Position beziehen", sagt Amit Friedman, ein israelischer Schauspieler, der die Aktion auf dem roten Teppich mit anderen organisiert hatte. "Es ist wichtig, dass die Menschen auf der Berlinale verstehen, dass es keine politische Haltung sein kann, sich mit diesem Terroristen, die morden und vergewaltigen, zu solidarisieren." Er könne akzeptieren, dass die Berlinale auch schwierige Meinungen zulässt. "Aber ich verstehe es einfach nicht, dass Künstler, die zuweilen kluge Filme produzieren, intellektuell nicht in der Lage sind, das Wesen der Hamas zu verstehen. Der Terror richtet sich nicht nur gegen Juden und gegen Israel, sondern auch gegen sie selbst und die gesamte freie Welt."
In den kommenden Tagen wird sich zeigen, ob Tricia Tuttles Feldversuch an entgrenzter Meinungsfreiheit wegweisend für den Umgang mit dem Nahost-Konflikt sein könnte. Auch das Gegenteil könnte der Fall sein, das Potenzial zum Debakel ist immens.