Apotheker in Cannes müsste man sein. Wahrscheinlich gehört ein Drittel der Yachten im Hafen Apothekern. Das Geld dafür verdienen sie in nur einer Woche – während des Filmfestivals. Und dieses Jahr reicht’s vielleicht noch für ein neues Navigationssystem dank des eher durchwachsenen Wetters.
Normalerweise holen sich die Journalisten ihre obligatorische Cineasten-Erkältung durch das ständige Pendeln zwischen auf Alaska-Klima heruntergedimmten Vorführsälen und der sonnenheißen Croisette. Nun aber ist der Hustenbonbon/Taschentuch/WickMedinait-Absatz in schwindelerregende Höhen geschnellt, weil die armen Kollegen in strömendem Regen Schlange vor den Kinos stehen, um dann pitschnass vor der Leinwand schockzugefrieren. So spendet ein endlich mal klarer, schöner Tag wie heute kaum Trost für die verschnupfte Filmgemeinde: Temperatur: 25 Grad, gefühlte Temperatur: 12 Grad.
"Free Zone" treibt sogar geübte Filmeschauer zur Verzweiflung
Ganz bitter wird’s dann, wenn man den von Keuchkrämpfen begleiteten Erfrierungstod gar nicht mehr mitbekommt, weil man vorher bereits an Langweile dahingesiecht ist. Grausame Vorstellung: Das Letzte, was man in seinem Leben zu sehen bekommt, ist ein israelischer Wettbewerbsbeitrag namens "Free Zone". Gleich nach Ende der Vorführung im Salle Debussy formierte sich eine kleine Gruppe von Journalisten, um sich künftig dafür stark zu machen, dass in den Credits unter Filmkritiken nicht nur die Lauflänge, sondern auch die gefühlte Länge vermerkt wird. Im Falle von Amos Gitais Drama hieße das konkret: Länge: 90 Minuten, gefühlte Länge: 172 Minuten.
Da ich alter, minderstudierter Ignorant den Namen dieses Regisseurs noch nie gehört hatte, ließ ich mich von einer wesentlich besser informierten Kollegin darüber aufklären, dass es sich bei Gitai um die Gallionsfigur des israelischen Kinos handele. Wer jetzt noch über eine Krise des deutschen Kinos salbadert, wird zu drei Gitais in einer von außen verschlossenen Einzelzelle verdonnert.
Dabei las sich das Ganze eigentlich ganz vielversprechend als Szenario einer Suche nach den eigenen Wurzeln. Die in Jerusalem geborene US-Schauspielerin Natalie Portman spielt die New Yorkerin Rebecca, die einige Monate zuvor zu ihrem Verlobten nach Jerusalem gezogen war. Nachdem sie ihn verlassen hat, sitzt sie nun im Taxi der resoluten Israelin Hanna und will nur noch weg. Statt am Flughafen landet sie in Jordanien, wo ihre Chauffeurin eine große Summe Geldes für ihren Ehemann abholen will. Ein Unterfangen, dass sich schließlich zu einer Odyssee entwickelt, in die auch noch eine Palästinenserin involviert wird.
Endlose Landschaftssequenzen und valiumartige Dialoge
Gitais Versuch, die Historie und den Status Quo des verworrenen und komplizierten Nahost-Konfliktes erhellend einzukreisen, scheitert auf ganzer Linie. Schon die Eingangssequenz, in der die Kamera, untermalt von einem plärrigen Volkslied, sage und schreibe zehn Minuten auf dem weinenden Gesicht Portmans klebt, ließ nichts Gutes erahnen. Endlose Landschafts-Sequenzen, valiumartige Dialoge und Monologe, sowie ein attraktiver weiblicher Star, der verloren wie eine Touristin durch die Szenerie tappt, schließen sich an. Wieder mal also ein Fall, bei dem jemand das falsche Medium für seine Story gewählt hat.
Wim Wenders, jenem Mann, der Zeit seines Lebens auf der Suche nach den richtigen Bildern ist, kann man das weniger vorwerfen. Nach zuletzt eher enttäuschenden Arbeiten ist der deutsche Cannes-Stammgast, über den der Pressekonferenz-Moderator witzelte, man könnte ihm bald ein Penthouse auf dem Festival-Palais bauen, dieses Jahr mit "Don’t Come Knocking" im Wettbewerb vertreten. Über 20 Jahre nach dem Palmen-Gewinner "Paris, Texas" hat sich Wenders wieder mit dem US-Dramatiker Sam Shepard zusammengetan, was natürlich zu außerordentlich hohen Erwartungen führte. Und zum Problem werden kann.
Wim Wenders und die hoch gesteckten Erwartungen
Der Film ist zwar kein Meisterwerk geworden, sicherlich aber einer der schönsten und zugänglichsten des geborenen Düsseldorfers. Wie zufälligerweise auch in Jim Jarmushs "Broken Flowers" steht im Mittelpunkt des Geschehens ein Mann, der eines Tages erfährt, das er einen 19-jährigen Sohn hat. Sam Shepard selbst spielt diesen Howard Spence, ein abgehalfterer Western-Star, dessen trostloses Leben aus Nebenrollen, Whiskey, Kokain und One-Night-Stands besteht.
Die Begegnung mit seiner Vergangenheit, der Rückkehr in jene Stadt in Montana, wo sein Sohn und dessen Mutter (Shepards wunderbare Frau Jessica Lange) leben, sowie das Auftauchen seiner ihm ebenfalls unbekannten Tochter Sky (Sarah Polley) lässt ihn innehalten und über die all die verpassten Chancen nachdenken. Rückgängig machen kann er nichts mehr, das weiß er, aber am Schluss keimt doch die Erkenntnis, dass er so etwas wie eine Heimat gefunden hat. Letztere hat Wenders bereits vor vielen Jahren in Amerika gefunden, jenes Land, dessen Filme, Bücher und Mythen ihm schon als Kind als den schönsten Platz der Welt erscheinen ließen. "I feel like home here", verriet er auf der Pressekonferenz, und "Don't Come Knocking" ist so zugleich eine liebevoll fotografierte, teilweise überraschend humorvolle Hommage an dieses Zuhause.
Ob sich am Samstag der Kreis zu "Paris, Texas" mit einer weiteren Goldenen Palme schließen wird, ist die spannende Frage. Die gefühlten Favoriten auf den Hauptpreis sind bisher Michael Hanekes "Caché", "A History of Violence" von David Cronenberg und Jim Jarmushs "Broken Flowers". Gut möglich, dass sich Wim Wenders vor der Verleihung noch mit Beruhigungsmitteln versorgt. Die Apotheker wird's freuen.
Bernd Teichmann