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Venedig-Tagebuch Gold-Löwe für Schwulen-Western

Neben dem überraschenden Sieg für das Cowboy-Liebesdrama von Regisseur Ang Lee heimsten noch Philippe Garrel, David Strathairn und Giovanna Mezzogiorno Preise ein. Und auch der heimliche Lido-König George Clooney sahnte ab.
Von Bernd Teichmann

George hat sie mal wieder alle in den Sack gesteckt. Holte nicht nur zweimal Gold, sondern verteidigte auch erneut seinen WM-Titel als makelloses Charme-Gesamtkunstwerk. Das fing schon auf dem roten Teppich an. Während andere brav das eine oder andere Autogramm gaben, verzagt winkten oder gleich direkt aus der französischen Sponsoren-Limo in den Palazzo del cinema glitten, betrieb der "Löwe von Venedig", wie sie ihn hier inzwischen liebevoll nennen, erstmal ausgiebig Zielgruppen-Pflege.

Händchenschütteln hier, ein frecher Spruch dort und circa 500 Unterschriften in zehn Minuten. Damit nicht allein das Signieren eine halbe Ewigkeit dauert, zeichnet Clooney mittlerweile nur noch mit seinen Initialen (den Fans ist's egal, wie ich gerade eben aus erster Hand von meiner ob der Mitbringselkunde halb hysterischen Freundin erfahren habe). Er war auch der Einzige, der die immerhin gut 200 Meter lange Schaulustigen-Reihe anwanderte, und das Bemerkenswerte daran war, dass er das nicht aus zwingendem Pflichtbewusstein tat, sondern aus purer Lust.

Dass Italien den Besitzer eines Eigenheims am Comer See ohnehin schon halb adoptiert hat und ihm wahrscheinlich bald die Staatsbürgerschaft anbieten wird, ließ das Verhalten der Bildregie des Senders RAI erahnen, der den Gala-Abend live übertrug. Als die Aussenmoderatoren fleißig ein Kurz-Interview nach dem anderen mit diversen Filmschaffenden diverser Nationen führten, schaltete die Aufnahmeleitung immer wieder neugierig auf die Clooney-Kamera. Clooney im Vorraum, Clooney betritt den Vorführsaal, Clooney begrüßt einen Kollegen, Clooney setzt sich, Clooney, Clooney, Clooney. Der Mann ist wie ein gut riechender Magnet.

Bester Schauspieler: David Strathairn

Zwei Preise also für sein tolles Loblied auf die Pressefreiheit, "Good Night, And Good Luck". Dass er nicht den Löwen für den besten Film gewann, war schon eine kleine Überraschung. Immerhin, der Award für David Strathairn als bester Schauspieler war absolut verdient. Den Löwen für das beste Drehbuch, den sich Clooney mit seinem alten Freund Grant Heslov teilt, geht ebenfalls in Ordnung.

Dass "Brokeback Mountain" als Bester Film durchs Ziel ritt, erstaunte nicht wenige. Unter den Buchmachern hatte Ang Lees Schwulen-Western lediglich im Mittelfeld gelegen, und ein wenig perplex schien auch der Regisseur selbst zu sein, so wie er da mit dem edelmetallenen Flügeltier auf der Bühne stand.

Ang Lee selbst erstaunt über Goldenen Löwen

Die weiteren Zuschläge seitens der Jury um Dante Ferretti stießen auf breitgefächerten Applaus. Der Silberne Löwe ging an den Franzosen Philippe Garrel für sein mit drei Stunden vielleicht etwas zu lang geratenes 68er-Drama "Les amants réguliers", dessen Kameraarbeit ebenfalls gewürdigt wurde.

Den Spezialpreis der Jury durfte sich Abel Ferrara für sein sperriges Erlösungs-Traktat "Mary" abholen, den Löwen als Beste Darstellerin empfing die reizend schüchterne Giovanna Mezzogiorno, einziger Lichtblick in Christina Comenicinis ansonsten eher wechselhaftem Missbrauchs-Panorama "La bestia nel cuore". Ihre französische Kollegin Isabelle Huppert, als Titelheldin in Patrice Chéreaus "Gabrielle" für den Darstellerinnenpreis favorisiert, bekam einen Spezial-Löwen für ihr Gesamtwerk, und der Haitianer Ménothy Cesar den Marcello Mastroianni-Preis als Bester Nachwuchs-Mime, den stellvertretend der "Vers du sud"-Produzent entgegenehmen musste, weil der Prämierte kein Ausreisevisum erhalten hatte.

Es war ein ruhiges Festival

62. mostra internazionale d'arte cinematografica: tutto completti. Was bleibt, was kommt? Es war ein durchwachsenes, ruhiges Festival ohne Peinlichkeiten, Skandale oder sonst irgendetwas, das nachhaltig in Erinnerung bliebe (abgesehen vielleicht von der Tatsache, dass Fernando Meirelles exzellenter "The Constant Gardener" gänzlich leer ausging). Ohne Peinlichkeiten bedeutet allerdings auch: Die Organisation war dieses Jahr vorbildlich. Vorführungen, Presskonferenzen, Premieren-Galas, Security-Checks - alles lief wie am Schnürchen, keine Wartezeiten, keine Animositäten. Positiv gleichfalls die Einschmelzung des Programms von 84 auf 56 Filme, das hat jeder als entspannendes Moment empfunden. Wer konnte und wollte, verlor nicht den Überblick und sah jeden Film, den er wollte.

Was bringt die Zukunft für das älteste Filmfestival der Welt? Große Veränderungen, wobei noch unklar ist, wie die konkret aussehen werden. In einem großen begehbaren Klotz im Casino war der Idealfall zu besichtigen. Dort hatte die Mostra-Leitung die insgesamt neun Entwürfe für ein neues Festival-Zentrum präsentiert. Den Zuschlag der diesjährigen Ausschreibung bekam die genuesische Firma Studio 5+1, in Zusammenarbeit mit dem französischen Stararchitekten Rudy Ricciotti, die sich immerhin gegen starke Konkurrenten wie Peter Eisenman, Bolles & Wilson oder Rafael Moneo durchsetzen konnten.

Neuer Festivalpalast hängt von Wahlausgang ab

Sollten die benötigten 73,3 Millionen Euro beschafft werden können, würde der Bau des 2400 Zuschauer fassenden, neuen Hauptgebäudes mit neun, kleineren, unterirdischen Vorführräumen, nach Ende des nächsten Festivals beginnen. Geplante Eröffnung: 2008.

Doch der Weg dorthin ist mit Fragen gepflastert: Wird Silvio Berlusconi, dessen Regierung Direktor Marco Müller ins Amt gehoben hat, die voraussichtlich im Frühling 2006 stattfindenden Wahlen gewinnen? Wenn nicht, wie stände die neue Administration zu dem teuren Bauprojekt? Wie käme Müller, der einen Vierjahresvertrag bis 2007 hat, mit den Neugewählten klar? Wie stark schlägt das neue Festa del cinema ein, das Roms linker Bürgermeister Walter Veltroni im Oktober 2006 in der Hauptstadt starten will?

Zeiten des Übergangs

Klar ist auf jeden Fall, dass die veraltete Infrastruktur dringend verbessert werden muss, und ein neues, modernes Festivalzentrum dafür, so Müller, unerlässlich ist. Nur so sei die bisher große Unterstützung der Produzenten und Verleiher weiter gewährleistet. Somit werden die kommenden beiden Jahre hier am Lido eine Zeit des Übergangs sein. Entweder in eine schillernde Ära, die Marco Müller mit seinem Ziel, Venedig wieder zur Nummer eins vor Cannes und Berlin zu machen, anstrebt. Oder in einen Rückfall in alte Zeiten, als die Mostra drohte, in der provinziellen Mittelmäßigkeit zu versinken. Bis dahin erstmal ciao, grazie, arrividerci und: good night, and good luck.

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