"Mit dem Zoom gelange ich auf die andere Seite des Spiegels. Ich bin in Alices Wunderland." (Jean Baudrillard)
Sie heißen Bennett, Natasha, Lydia, Jeff, June und Morgan. Auf diese Namen hören sie in ihren amerikanischen Allerweltsalltagen. Mit ihren gewöhnlichen Berufen und durchschnittlichen Behausungen. Doch manchmal reicht ihnen das Allerweltsleben nicht, die Rolle, die sie darin spielen. Dann muss ein anderer Name her und eine andere Haut. Die neue Haut haben sie selbst gebastelt: verrückte Kostüme, schrill, düster, ohne Worte. Es sind Hüllen von Wesen aus einer fernen Epoche oder einem fremden Stern. Sie nennen sich dann Tree, Sakuru Kinomoto, Schoolgirl und Mai Shiranui. Sie alle sind Cosplayer. Das steht für: Costume Player - fleischgewordene Figuren aus Mangas, Animes, Videospielen. Sie tragen die Kostüme ihrer virtuellen Helden, denn sie haben genug von der Position des Beobachters, der schauen, aber nicht vollständig begreifen kann. Wagen den Sprung, versuchen mehr zu sein als nur begeisterter Leser, Spieler, Zuschauer. Als Cosplayer möchten sie in eine andere Haut schlüpfen, einem geliebten Menschen, einer verehrten Figur sehr nahe kommen, noch näher, förmlich in sie kriechen, Abbild sein.
Und ihr Spiel freut sich steigender Beliebtheit. Die Zahl der Communities wächst. Fast 200 sind es weltweit, die größten davon in Amerika und Japan. "Cure" heißt eine der beliebtesten Cosplayer-Seiten in Japan. Sie zählt über 4000 Cosplayer, und ihr Fotopool fasst mittlerweile zwei Millionen Cosplayer-Porträts: zwei Millionen Bilder von in sich geschlossenen Welten. Denn jeder Cosplayer ruht in der Hülle seiner Figur als Zentrum einer Fantasiewelt. Und so inszenieren sie gewöhnlich ihre Figuren für Fotos gezielt in einer Umgebung, die zu ihrer Verkleidung passt, die ihr anderes Ich unterstreicht.
Die Bücher:
Elena Dorfman: "Fandomania - Characters & Cosplay"
Aperture
35 Dollar
Oliver Sieber: "Character Thieves"
Schaden.com feat. Kobayashi/Böhm Publishers
38 Euro
Junge Menschen, sehnsüchtig, ein wenig abgehoben, in Kostümen, die in Groß- wie Kleinstadt alle Blicke auf sich ziehen: Das ist ein dankbares Thema für jede Kamera. Auf den ersten Blick. Und mit diesem bekommt man ein nettes dekoratives Partybild, Cosplayer als Teil einer quietschigen Freakshow. Interessant und der spannenden Szene gerecht wird man den Figuren jedoch nur mit geduldigem, ruhigen Blick. Dem deutschen Fotografen Oliver Sieber und der Amerikanerin Elena Dorfman ist es gelungen, sich mit ihren aktuellen Publikationen, ihren Porträts aus der Cosplayer-Szene, wohltuend von den voyeuristischen Fotomassen abzuheben, nicht nur die Hüllen, sondern auch das Leben in ihnen abzulichten.
Elena Dorfman: Fandomania. Characters & Cosplay
Dorfman, die sich auf die amerikanische Cosplayer-Szene konzentriert, gestaltet ihre Porträts schlicht. Vor schwarzem Hintergrund fotografiert sie in einem mobilen, sorgsam ausgeleuchteten Studio Cosplayer, die sie vor Ort, bei großen Cosplayer- Events, für zehn bis zwanzig Minuten vor ihre Kamera bittet. Dorfman nutzt die kurze Zeit und schafft, zusammen mit ihren außergewöhnlichen autonomen Modellen, Aufnahmen, die eindrucksvoll von grenzsprengender Fantasie schwärmen und dem alten Wunsch, einmal ein anderer zu sein. Der Traum nimmt Gestalt an. Zumindest ab und zu, zwischendurch für Sekunden, manchmal gerade dann, wenn Dorfman auf den Auslöser drückt und so Bennett, Natasha und Lydia in den Fotografien als Ikonen mit magnetischer Strahlkraft zeigt. Man kann emsig philosophieren, über die sensiblen Seelen der Pubertierenden, die noch schwanken zwischen den Geschlechtern, zwischen Trauer und Glück. Am eindruckvollsten sind die Bilder aber dann, wenn man den Figuren kopflos in ihr grenzfreies endloses Fantasiereich folgt.
Oliver Sieber: Character Thieves
Oliver Sieber wagt sich mit seinen Aufnahmen noch einen Schritt weiter. Weg von den Community-Events, raus aus dem Studio: Er begleitet die Cosplayer zurück in ihren Alltag, fotografiert sie als Teil ihrer Allerweltsumgebung in Ulm, Leverkusen, Nagahama. Von den Lüften, auf den Schwingen der Fantasie wieder auf den heimatlichen Boden in diversen Städten in Japan, Kanada, den USA und Deutschland. Und Siebers Aufnahmen zeigen, dass die Landung hart und der Kontrast eindrucksvoll ist. Es ist wichtig zu wissen, dass Cosplayer ihre Kostüme niemals im Alltag tragen. Oft gehen sie ihrer Leidenschaft im Geheimen nach, verstecken ihre zweite Identität vor dem drohenden Unverständnis von Familien-, Schul- oder Kollegenkreis. Das Kostüm tragen sie auf einem Event. Zuhause: das ist Jeans, Shirt, flügellos.
Im Gegensatz zu den Scheinwerfern in Dorfmans Bildern vertraut Sieber bei seinen Studien auf natürliches Licht. Dadurch wirken die Auftritte der Cosplayer in den grauen Wohnungen, Vorgärten, Eingängen, noch beiläufiger, entfremdeter, glanzloser. Die Figuren scheinen hineingebeamt in eine Umgebung, die nicht die ihre ist. Kaum zu glauben, dass dieselben Körper, wenn sie nicht Chi, Sailor Venus oder Princess Sakura heißen, ohne Kostüm und den für die Aufnahmen von Sieber typischen abwesenden ernsten Blick der Porträtierten, unauffällig mit ihrem Zuhause verschmelzen.
Es ist ständig ein Thema: dem Alltag entwischen, die Grenzen der eigenen umzäunten Identität durchbrechen. "Eigentlich bin ich ganz anders, ich komm nur viel zu selten dazu", singt Udo Lindenberg in einem seiner Hits. Verstehen wir es als Aufforderung, die Lücke zwischen Traum und Realität zu schließen, seiner Lieblingsfigur endlich ein Kostüm zu nähen und ihr ein menschliches Gesicht zu leihen. Und ganz sicher ist: Für jeden, der etwas Verücktes wagt, findet sich einer, der ihm gerne dabei zuschaut.