Schönheit muss man manchmal suchen, sie lässt sich nicht so einfach finden. Wenn man Glück hat, versteckt sie sich hinter einem roten Backsteinhaus mitten in Manhattan, begleitet vom Gestank aus den Gullys. Untermalt vom Hupen der Autos, die sich auf vier Spuren an den Sony Music Studios vorbeischieben. Und manchmal hat Schönheit einen Namen: An diesem Abend kommt sie in Gestalt von India.Arie.
Die Songwriterin schwebt zum Showcase in einer orangen Toga ein, gerade so, als würde sie auf unsichtbaren Rädern rollen. Wo eben noch das Publikum gelangweilt Champagner-Cocktails schlürfte, herrscht plötzlich Stille. India.Arie besitzt eine besondere Aura - sie zieht die Blicke an, wie eine außerirdische Erscheinung. Und so entrückt redet die 30-Jährige zuweilen auch: "Heute fühle ich mich sehr sinnlich, deshalb trage ich orange", sagt die Sängerin auf der Bühne. "Farben drücken meinen Gemütszustand aus. Gelb bedeutet viel Power, weiß ist Ruhe und Klarheit." Farben als Stimmungsbarometer, da lachen Spötter und schieben die mehrfache Grammy-Gewinnerin gerne in die Esoterik-Ecke ab. Aber halt! So einfach ist das nicht.
Der Erfolg kam über Nacht
Spirituelles spielt bei der US-Amerikanerin seit jeher eine übergeordnete Rolle, doch liegen ihre Wurzeln im irdischen, genauer in Denver. Mutter Joyce, selbst eine Sängerin, esoterisch angehaucht, und Vater Ralph, ein Ex-Profi-Basketballspieler, fördern schon früh das musikalische Talent ihrer Tochter. Sie erhält Unterricht an Saxofon, Klarinette, Flügelhorn und Trompete. Doch erst die Gitarre eröffnet ihr die Möglichkeit, gleichzeitig zu spielen und zu singen. Jahrelang tingelt India.Arie mehr oder weniger erfolglos durch die USA. Vor fünf Jahren kommt dann der Erfolg - quasi über Nacht.
Geprägt vom Soul und getrieben von einer unglaublichen Energie schreibt sie eine handvoll wunderbarer Songs für ihr Debüt-Album "Acoustic Soul" von 2001. Beachtliche 2,5 Millionen Käufer katapultieren ihre CD in die Charts und lieben die Melange aus R&B mit einem Schuss lässigem Soul. Für sie keine wirkliche Überraschung, hat India.Arie doch hart für den Erfolg gearbeitet: "Es ist ja nicht so, dass du eines Morgens aufwachst und dann merkst: Wow, ich kann plötzlich singen. Das ist ein fließender Verlauf. Irgendwann auf einer Party habe ich mal bemerkt, wie fasziniert Menschen auf meine Stimme reagieren: Da wusste ich, mein Traum kann sich irgendwann erfüllen."
Intelligente Texte
Und mit der Hitsingle "Video", einem Statement sich so zu lieben wie man ist, wird endgültig klar: India.Arie hat nichts mit doofen HipHop-Ludern gemein, deren Mikrokosmos aus Goldschmuck und Brustvergrößerungen besteht. Mit Zeilen wie "Manchmal rasiere ich mir die Beine und manchmal nicht/Manchmal kämme ich mir die Haare und manchmal eben nicht/Kommt darauf an wie der Wind weht/Vielleicht lackiere ich mir auch die Fußnägel/Es ist wirklich nur davon abhängig was sich gut in meiner Seele anfühlt", stellt sie den üblichen HipHop-Habitus ad absurdum. Und avanciert damit zur Gallionsfigur einer neuen Frauenbewegung. "Auf diese Hymne haben wir Mädels lange gewartet", stimmt Talkmasterin Oprah Winfrey denn auch in den Kanon der Begeisterung ein.
Die CD:
Die Erwartungen nach ihren beiden ersten Alben sind enorm, immerhin knapp vier Jahre brauchte India.Arie, um neue Songs zu schreiben. Das Warten hat sich gelohnt: Die Sängerin gibt auf "Testimony: Vol. 1, Life & Relationship" (Motown/Universal) sehr intime Einblicke in ihr Seelenleben, singt über Liebeskummer, Vergebung und Weisheit. Alles untermalt von hypnotischem Soul und meditativen R&B-Klängen. Und mit "I Am Not My Hair" fehlt natürlich auch nicht die obligatorische Kampfansage an alle, die Frauen nur nach Äußerlichkeiten beurteilen.
Von null auf hundert: Plötzlich ist India.Arie ein Star. Zumindest in den USA, im Rest der Welt gelingt ihr 2002 erst mit dem folgenden Album "Voyage to India" der Durchbruch. Es häufen sich aber auch gut gemeinte Ratschläge von "Freunden", die sie mit großem Selbstbewusstsein souverän abschmettert. "Meine Mutter ist eine sehr starke, einzigartige Person. Von ihrer Mentalität steckt sehr viel in mir. Sie hat immer gesagt: Höre nicht auf die anderen, ziehe dein Ding durch. Wenn du jemanden hast, der bereits als Kind so unerschütterlich an deiner Seite steht, kommt das Selbstbewusstsein von alleine", erklärt India. Wie fest der Glaube an sich selbst ist, beweist auch die Antwort auf die Frage, was India tun würde, wenn Sie jemals ihre Stimme verliert. "Ich würde Bücher schreiben. Über die gleichen Sachen, über die ich auch singe. Das Leben bietet immer genug Stoff für spannende Themen."
Aber sie muss ja glücklicherweise noch keine Bücher schreiben. Nach vier Jahren Pause legt die Soul-Queen mit "Testimony: Vol. 1, Life & Relationship" eine weiter Hymne an das Leben vor. Sie singt über Liebeskummer, Vergebung und Weisheit. Alles untermalt von meditativen R&B-Klängen. Sie ist glücklich, sagt sie. Welche Farbe passt wohl dazu am besten? "Natürlich Pink."