So eine heiße Sexszene hat es im "Tatort" lange nicht mehr gegeben: Narbengesicht und ewiger U-Bootkapitän Jürgen Prochnow, 68, auch im Alter nicht unattraktiv, kopuliert auf der Designercouch mit seiner eigenen Tochter Anna (mit 36 immer noch sehr mädchenhaft: Laura Tonke) - ohne über ihre Inzest-Romanze Bescheid zu wissen.
Ein schöner Köder in Doppelfunktion: Als Lolita in geheimer Mission verführt Anna nicht nur den Unternehmer zur illegalen Waffenschieberei, auch uns Zuschauer animiert sie zum Weitergucken dieses komplexen Thrillers um Stasiseilschaften, die auch heute noch in der Bundesrepublik existieren. Ausgangspunkt ist der Tod einer alten Frau, die in ihrer Wohnung aufgefunden wird. Natürlicher Tod oder Mord? Die Bremer Kommissarin Inga Lürsen, bissig und kratzbürstig wie eh und je, folgt ihrer Intuition und ermittelt weiter.
Die tote Ruth Thalheim saß einst als Staatsfeindin in Bautzen ein, ihre Paranoia ließ sie auch in der neuen Heimat Bremen nicht los. "Es gibt nichts Fremderes als eine Heimat, in der man sich seines Lebens nicht sicher sein kann", beschreibt Nobelpreisträgerin Herta Müller, die vor der Securitate aus Rumänien geflüchtet ist. Umso schlimmer, wenn einen dieses Gefühl sicher zu sein, niemals und nirgends loslässt - der "Tatort" widmet diesem Zustand allerdings nur die Einstiegsszene.
Tödliche Giftspritzen und geheime Kommandozentrale in der Gartenlaube
Denn eigentlich ist die Aufarbeitung der Stasi-Seilschaften wie gemacht für einen "Tatort" jenseits von Gut-Böse-Stereotypen. Da ist die schöne Idealistin Anna, die für den Befreiungskampf der Indios in Südamerika mit dem Stasi-Teufel paktiert. Und die nicht weiß, dass sie mit ihrem Vater eine Inzest-Romanze betreibt und ihre leibliche Mutter jahrelang im DDR-Gefängnis einsaß. Prochnow gibt mit ruppiger Sensibilität den Lebemann zwischen Wohltätigkeit und Kalkül, ein Salonbolschewist, den die Vergangenheit einholt. Heinz Werner Kraehkamp verkörpert mit gedrungener Gestalt und rasiertem Schädel die böse Fratze der DDR.
Der Ex-Stasi-Oberst operiert von einer geheimen Kommandozentrale im Keller einer Gartenlaube. Wanzen und Überwachungskameras sind sein Lebenselixier. Mit seiner Obsession für tödliche Giftspritzen und schweres Geschütz wirkt er wie eine Karikatur von Dr. No. Genial die Szene, in der die Bratwurst in seiner Hand wie eine Waffe wirkt, mit der er Lürsen einschüchtert.
Keine durchgeknallten Verschwörungstheorien am Reißbrett
Um zu wissen, dass dies alles nicht bloße Verschwörungsfantasien von durchgeknallten Drehbuchautoren sind, muss man nur die Nachrichten verfolgen. Kürzlich hat beispielsweise das Magazin "Bunte" eine Agentur, die auch einen Ex-Stasi-Wachmann beschäftigte, beauftragt, Spitzenpolitiker wie Oskar Lafontaine und Franz Müntefering auszuspionieren. Dauerbeschattung mit Teleskop-Kameras fanden in 24-Stunden-Schichten statt, ja sogar Bewegungsmelder an Fußmatten waren geplant. Methoden, mit denen auch der DDR-Geheimdienst seine vermeintlichen Klassenfeinde ausspionierte und zersetzte.
Wie schnell Misstrauen gesät ist, erfährt auch Kommissarin Lürsen während der Ermittlungen. Plötzlich taucht eine Akte über ihre angebliche Spitzel-Tätigkeit auf, als IM "Schneewittchen" hatte die Stasi sie angeblich gelistet und Bilder über ihre Teilnahme an Friedensdemos in den 70er Jahren gesammelt. Zersetzung wettert sie gegen Stedefreund, als der ihr Handy heimlich checkt, Unbehagen ergreift sie, als der Hund des Mordopfers vergiftet in ihrer Küche liegt, ein Unbehagen, das man als Zuschauer teilen kann.
Auch 20 Jahre nach der Wiedervereinigung sind noch längst nicht alle Akten gesichtet, nicht alle Dossiers erforscht, viele Umtriebe der Staatssicherheit bleiben ungesühnt. Zum Jahrestag des Mauerfalls standen die Helden der Wiedervereinigung Kohl und Gorbatschow im Mittelpunkt, weniger die Opfer.
Die dunklen Seiten der Vereinigungsgeschichte - harter Tobak für Sonntagabend, keine Frage. Und einige Details der Geschichte erschließen sich nicht sofort. Man kann den Drehbuchautoren durchaus Überfrachtung vorwerfen. Zuviel Stoff für zu wenig Dreh- und Sendezeit, zu viele Handlungsstränge wurden zu stark verknappt. Man möchte dem "Tatort" mehr Produktionszeit und eine flexiblere Länge gönnen. Aber es ist immer noch besser, an hohen Ansprüchen (in diesem Fall: ein bisschen) zu scheitern, als nie etwas zu versuchen und in seichten Gewässern zu dümpeln.