Es war diese Unruhe, eine Art böse Vorahnung: Michael und Annette Schöler mussten im Sommer 2001 tagelang auf die Ergebnisse der medizinischen Tests an ihrem jüngsten Sohn Nico warten. Erst kurz zuvor hatten Ärzte die seltsamen Symptome ihres heute 15 Jahre alten Sohns Kai erstmals eindeutig diagnostiziert: Er leidet an metachromatischer Leukodystrophie (MLD), einer äußerst seltenen Stoffwechselkrankheit, bei der wegen eines Enzymdefekts nach und nach das Gehirn zerstört wird. Das Leiden ist vererbbar, führt zu körperlicher und geistiger Rückentwicklung, lähmt Arme und Beine, macht blind und taub. Ein medizinischer Albtraum, der als unheilbar gilt und schleichend tötet. Vier Kinder haben die Schölers. Der älteste Sohn Tim aus erster Ehe erlitt schon mit vier Jahren einen Schlaganfall und ist schwerbehindert. Und jetzt noch diese Gewissheit: Nicht nur Kai, sondern auch der dreijährige Nico trägt die tickende Zeitbombe MLD in sich.
Die Schölers reisten mit den zwei Jungen zu Professor Alfried Kohlschütter, Kinderneurologe und Stoffwechselexperte am Uni-Klinikum Eppendorf in Hamburg. Weltweit wurden bereits ein paar Kinder mit MLD mittels Knochenmarktransplantation behandelt. Der Erfolg ist keineswegs garantiert. Aber manchmal schaffen es die Zellen des Spenders, das Enzym, das den Betroffenen fehlt, nach der Übertragung weiter zu produzieren und so den Abbau im Hirn zu stoppen. Bei Kai war die Krankheit so weit fortgeschritten, dass es für solch einen Versuch zu spät war. Für Nico aber bestand eine Chance. Die Suche nach einem passenden Spender für Nico war schwierig. Wochen vergingen, dann endlich kam die erlösende Nachricht: Es gibt jemanden, der geeignet ist. In San Francisco. August 2002: Nico wird im Hamburger Uni-Klinikum in einer quälenden Prozedur auf die Spenderzellen aus den USA vorbereitet. Sein eigenes Immunsystem muss mit einer aggressiven Chemotherapie ausgeschaltet werden. Am 20. August reist ein Pfleger mit dem Knochenmark an, zwei Spritzen voller kostbarer rosaroter Zellen. 120 Minuten lang läuft das Lebenselixier in Nicos Gefäße.
"Ich hab Ihnen einen Brief mitgebracht", sagt der Pfleger zu Nicos Eltern und überreicht ein Stück beschriebenes Papier: "Es gibt nichts, was ich lieber getan hätte. Dein Spender."* Michael Schöler berührt dieser Brief noch immer sehr: "Man kann nicht mehr in so wenige Worte legen." Seit ein paar Wochen ist Nico wieder zu Hause in Hilchenbach bei Siegen. Das ehemals fehlende Enzym lässt sich inzwischen im Blut nachweisen. Ohne die Spende ginge es dem Fünfjährigen irgendwann wie seinem Bruder Kai: Der braucht jetzt oft einen Rollstuhl. Jeden Tag nehmen Michael und Annette Schöler ein bisschen mehr Abschied von dem Älteren - und schöpfen ein wenig mehr Hoffnung für den Kleinen. Der Lebensretter hat sich bereits bei der Hamburger Uni-Klinik nach Nicos Wohlergehen erkundigt. Noch wissen die Schölers nicht, wer dieser Mensch ist, denn erst nach einem Jahr dürfen Spender und Empfänger direkt miteinander in Kontakt treten. In Nicos Kinderzimmer steht so lange der Brief - gerahmt und hinter Glas.
Dieses Briefchen wäre nach dem Urteil der stern-Jury absolut prämienwürdig. Da der Verfasser - noch - anonym ist, scheidet er als Gewinner zur Zeit aus. Die Redaktion bemüht sich jedoch den Absender zu ermitteln.