Mammas im Widerstand Italias Erbe

Von Daniele Horvath
Auch südlich der Alpen greifen junge Frauen zur Tiefkühlpizza. Allerdings nicht alle. In der Provinz kocht eine Geschmacksguerilla mannhaft gegen das kulinarische Vergessen an. Mannhaft? Pah, natürlich sind es alles wackere Frauen.

Noch bevor du eintrittst, empfängt dich der Duft einstiger Sonntage: der Duft nach Braten, nach frischen Kräutern, nach selbst gebackenem Kuchen. Wer bei Lucia Gius, 59, im alten Bauernhof "Maso Cantanghel" hoch über Trento an einer Schlucht einkehrt, fühlt sich zurückversetzt. Und er muss Zeit mitbringen: "Sonst gehen Sie lieber in eine Raststätte", warnt Lucia ihre Gäste und kichert dabei wie ein Mädchen.

Ihre Trattoria ist kein klimatisiertes Top-Lokal mit lautlosem Service, mit Gerichten, die, gesteht Lucia neidlos, "so kunstvoll konstruiert sind wie Kathedralen", und mit einem Chef, der die Huldigungen der Esser empfängt. In Läden wie Lucias bekochen dich Wesen, von denen du fürchten musstest, es gäbe sie nicht mehr: lebhafte Frauen mit ersten Falten, mehligen Händen und fleckigen Schürzen, nur bestrebt, dich mit einfach leckerem Essen zu füttern, weil sie wollen, dass du satt wirst und selig. Mammas eben.

Der Mythos der Mamma hat überlebt

Klischee-Trattorien mit Korbflaschen und Kerzen darin halten sich nur noch in Touristenmeilen und im Ausland. Der Mythos der Mamma als Garantin kulinarischer Nestwärme aber hat überlebt - in Italiens Gastronomie. Es gibt noch die Heldinnen aus Fleisch und Blut. Da ist Lucia Gius mit ihrer feinen Bauernküche in den Trentiner Bergen. Oder Grazia Soncini in Großvaters schlichter Osteria im Po-Delta östlich von Ferrara, die mit ihren zart gebackenen Mini-Garnelen und Krebsen die Aromen der nahen Lagune auf die Zunge zaubert. In Lucia Pavins rosa Schlösschen in Galliera Veneta nördlich von Padua entdeckt man das längst vergessen geglaubte Risi e Bisi wieder, diesen cremigen Risotto-Traum mit den prallen Erbsen vom Hügelland des Monte Grappa.

Rosanna Torrisi und ihre Tochter Monica servieren auf ihrem 300 Jahre alten Gut vor den Toren Cremonas noch die echten "Stracciamusi", hauchdünne Teigtäschchen mit einer Füllung aus Vaters Hausmachersalami. In Muccia, einem Kaff tief in den Marken, beglückt Maria Cucculello ihre Gäste mit Bandnudeln unter einem Sugo aus frischen Steinpilzen mit Radicchio-Blättern sowie einem Rehbraten mit Oliven. Und da ist Vania Zoppini in ihrem Gasthof bei Mantua: Ihre Pasta, die sie wie zartes Bonbonpapier um eine Hechtmousse faltet, und ihre duftig-leichten Aalrouladen, umhüllt mit süß-sauer geschmorten Zwiebeln - sie sind wahre Sehnsuchtsdrogen.

"Mein Lokal ist mein Zuhause"

Es sind solche Köchinnen, die den Bestand der in ihrer lokalen Vielfalt einzigartigen Küche entlang des Stiefels sichern. Die in ihren Töpfen jeden Tag aufs Neue anrühren gegen den Untergang der "Cucina casalinga" im Einheitsbrei aus Tütensoße, Fertigpasta und Tiefkühlrisotto. Die von den Alpen bis nach Sizilien findet, wer Umwege nicht scheut, auf denen man sich prompt verfährt, weil die "Trattorie" und "Osterie" dieser Wirtinnen so versteckt liegen. Es sind Frauen, die auch ohne Sterne und Hauben ein starkes Selbstverständnis haben: das der "Massaia", der Herrscherin über Haus und Feuer, der Schutzpatronin der Hausmacherkost, Hüterin eines Schatzes alter Rezepte und Kenntnisse, die sie als begabte Autodidaktin weiterentwickelt hat.

Die "Massaia" ist das Gegenteil vom Heimchen am Herd. Lucias Gaststubentische zieren behäkelte Leinentischtücher und Silberbesteck, Dinge, die Mädchen früher als Mitgift bekamen. In ihrer Küche werkelt Lucia meist alleine, schnippelt Pfifferlinge, rührt im Kupferkessel Polenta an, putzt Gartensalat. Man kann ihr in die Töpfe schauen, wo Kalbsbäckchen schmoren und das Nudelwasser siedet. Das Gefühl sagt: Es ist wie heimzukommen. Lucia sagt: "Mein Lokal ist mein Zuhause - und die Gäste sind wie die Familie, die ich bekoche." Lucia hat von Mutter Alma gelernt, die bis kurz vor ihrem Tod im Alter von 80 am Herd stand. Was Frauen wie Lucia von klein auf beobachtet haben, "wird zur kulturellen Prägung, die von Gesten bis zum Gaumen reicht", sagt Grazia Soncini, 51, die ihr Studium abbrach und heute mit Mutter Wanda, 78, die Küche teilt.

Die Rezepte der Alten haben sie bekömmlicher gemacht: Sie haben das Schmalz durch Olivenöl ersetzt, sie lassen die Schweineschwarten noch mitkochen im Bohneneintopf. Statt zerkochten Kohls wird rohes "Carpaccio di cavolo" gereicht, zartgrüne Kohlstreifen mit Petersilie, etwas Olivenöl und einem Hauch Knoblauch. Zucchiniblüten, mit Ricotta und heimischer Forelle gefüllt und federleicht ausgebacken, erleben ihre Wiederauferstehung wie der gute alte "Brassato", der in vielen Stunden im Rotwein aus der Region sanft gegarte Rinderbraten.

"Erneuern, ohne die Tradition zu verraten", nennt das Grazia Soncini, die frühmorgens zu den Fischmärkten fährt, um sich ihre Ware selbst auszusuchen. Was Frische und Qualität der Grundprodukte angeht, sind sie und ihre Kolleginnen besessener als mancher Spitzenkoch. Alle ernten sie aus eigenem Biogarten - oder dem des Bauern nebenan. Lucia Pavin, 60, lässt sich ihr quittegelbes Polentamehl aus Mais aus eigenem Anbau mahlen, Vania Zoppini, 39, hält sich Enten am Fluss und dazu die verlässlichsten Angler, von denen sie Aale, Welse und Hechte bezieht. Jede der Frauen ist eine Maestra des Nudelteigs, perfekt im Kneten, Walzen und Formen der "Pasta sfoglia", der papierdünnen Nudeln, geschickt im Komponieren der Saucen und Füllungen, die ihre Tagliatelle und Tagliolini adeln, ihre Tortelli und Tortellini, ihre Ravioli, Cappelletti und Agnolotti. Großmarktund Gefrierkost-Giganten, die mit kiloschweren Convenience-Katalogen in ihre Küchen drängen, haben keine Chance

Mutterliebe hat keinen Preis

"Im Metro-Prospekt neun ganze Seiten nur Fertig-Tortelli", hat Rosanna Torrisi fassungslos nachgezählt. Ihre Tochter hat das Teil schaudernd im Papiermüll entsorgt. Lieber wenige Tische und eine kleine Tageskarte, dafür tadellose Kost zu fairen Preisen, das ist das Credo der Frauen. Vom Preis, den sie selbst zahlen, reden sie kaum. Von der Knochenarbeit, die 18-Stunden-Tage fordert, ihre Jahre und ihre Jugend frisst. Von den Krisen mit ihren Männern, die irgendwann lieber gehen, als die Gattin weiter mit deren Töpfen und Gästen zu teilen. Von ihrer Leidenschaft, die sie, wie Lucia Pavin sagt, "lieber neue Kellen kaufen lassen als ein neues Kostüm". Sie sind ruhelos noch am Ruhetag, "weil das wie Entzug ist", bekennt Vania Zoppini. Mutterliebe hat keinen Preis.

Lange drohte Italiens Küchen-Matriarchat deshalb das Aus. Die aktive Generation der "Massaie" – im Schnitt zwischen 50 und Ende 60 – kommt in die Jahre. Ihre Töchter aber machen sich rar – am eigenen Herd wie in der Gastronomie. Sie wählen andere Berufe, verbringen ihre Zeit lieber mit der Familie oder im Fitnessstudio als in der Küche, kaufen lieber Tiefkühlpizza, als den Teig selbst zu kneten. "Viele junge Frauen", sagt Lucia Pavin traurig, "haben von ihren Müttern nicht mal richtig Kochen gelernt." Doch es beginnt ein Umdenken. Die Provinz Modena etwa ging mit Unterstützung von Slow Food auf Spurensicherung in der Emilia: In Video-Interviews (ab Herbst abrufbar) werden 160 alte Menschen - meist Hausfrauen - beim Kochen, Backen und Metzgern nach alten Ritualen und Rezepten beobachtet, bevor die mit ihnen wegsterben. Und die Gasthäuser der Mammas sind voll wie lange nicht: "Es ist", sagt Grazia Soncini, "als hätten die Leute genug von Gourmet-Tempeln und Fast Food."

"Wir sind keine Künstler, wir sind Handwerker"

Ihre Tochter, 15, ist wild entschlossen, Mutters bodenständige Küche einmal weiterzuführen, so wie Monica Torrisi, 34, oder Nancy Pavin, 38, das heute schon tun. Einen "stillen Aufstand der "Massaie" glaubt Gastro-Autor Carlo Cambi ausgemacht zu haben. Cambi, Journalist und Dozent für Tourismus, hat den Mammas mit seinem sich ironisch vom Edel- Guide "Gambero Rosso" ("Die rote Garnele") abgrenzenden Gasthausführer "Gambero Rozzo" ("Die ungehobelte Garnele") ein Denkmal gesetzt: Knapp 1000 Adressen sind in der Ausgabe von 2007 aufgeführt, wo für weniger als 40 Euro pro Menü mit Respekt vor der Tradition gekocht wird. In den meisten Häusern stehen Frauen am Herd. Das dicke Werk ist ein Bestseller.

In die männerbeherrschte Spitzengastronomie drängt es die Mammas selten. "Wir sind keine Künstler", sagt Lucia Pavin, "wir sind Handwerker." Auch Nadia Santini, 49, eine von drei weiblichen Drei-Sterne-Köchen Italiens (es gibt überhaupt nur fünf), beobachtet bei ihren Kollegen viel Selbstinszenierung: "Männer scheinen mit jedem Teller zu sagen: Schaut nur, wie toll ich bin! Wir Frauen denken eher an das Wohlbefinden der Menschen, die an unseren Tisch kommen." Mütterliche Berufung sei ihnen nicht auszutreiben, glaubt Grazia Soncini. "Wie wir die Leute bekochen, das ist, als würden wir noch immer stillen."

"Lucia, das war wie von meiner Mamma!"

Dass hinter jedem "Grande Chef" ohnehin eine Frau steckt, davon ist Lucia Gius spätestens seit dem Besuch von Gianfranco Vissani überzeugt. Der Sterne- und TVKoch, ein Lafer in Italo-Version, hatte bis vier Uhr früh in ihrer Küche gehockt, mit Brotstücken noch die letzten Tropfen Sauce vom Teller aufgewischt und danach beseelt gerufen: "Lucia, das war wie von meiner Mamma! Du hast mich glücklich gemacht!" In jener Nacht klang ihr Kichern bis tief hinunter ins Tal.

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