Ohne Strom und fließend Wasser Eltern ziehen Kinder im Wald groß. Ein Gericht erklärt das für unzumutbar

Die Sonne geht über dem Gran Sasso Nationalpark in den Abruzzen auf
Die Sonne geht über dem Gran Sasso Nationalpark in den Abruzzen auf. In der italienischen Region lebt die Familie, um deren Kinder jetzt ein Sorgerechtsstreit entbrannt ist
© Lorenzo Di Cola / Imago Images
Ein Ehepaar will, dass seine Kinder naturnah aufwachsen. Eine italienische Behörde findet die Bedingungen nicht kindgerecht und zieht Konsequenzen. Der Fall polarisiert das Land.

Wie viel Zivilisation brauchen Kinder? Diese Frage beschäftigt Italien bis in die Regierung hinein. Es geht um eine britisch-australische Familie mit drei Kindern, die in einem abgelegenen Haus in der mittelitalienischen Bergregion Abruzzen lebt – ohne Zugang zu Strom, Gas oder fließendem Wasser. Unterricht gibt es nur in den eigenen vier Wänden von einem Hauslehrer.

Per Gerichtsbeschluss wurden die Kinder – eine acht Jahre alte Tochter und sechsjährige Zwillinge – am Donnerstag in ein geschütztes Heim in der Stadt Vasto gebracht, wie italienische und österreichische Medien berichten. Den Kindern sei das "Recht auf soziale Beziehungen" verweigert worden, begründeten die Richter die Entscheidung. Außerdem bemängelte die Behörde die hygienischen Verhältnisse sowie den mangelnden Kontakt zu anderen Kindern.

Nur die Mutter dürfe die Kinder begleiten, entschied das Jugendgericht, und das auch nur zeitweise. Übernachtungen sind demnach nicht erlaubt. Die Eltern hätten bereits einen Einspruch eingereicht. Der Vater lebe jetzt alleine auf dem Bauernhof. Italienische Medien zitieren ihn mit den Worten: "Es war ein Schock. Aber ich muss handeln, damit meine Familie bald wieder nach Hause kommen kann."

In der Einrichtung sollen die Minderjährigen zur Beobachtung in einer pädagogischen Wohngruppe untergebracht werden. Außerdem würden sie medizinisch untersucht und psychologischen Tests unterzogen, heißt es. Einen Kinderarzt hätten sie in den vergangenen vier Jahren nicht besucht.

Ein Leben wie vor hundert Jahren

Der Fall hat eine heftige Debatte darüber ausgelöst, welche Erziehungsmethoden Kindern zugemutet werden könnten. Unterstützer der Familie werfen dem Staat Übergriffigkeit vor. Bei einer Online-Petition zugunsten der Familie kamen mehr als 13.000 Unterschriften zusammen. Andere verteidigen die Behörden, weil es um das Wohl der Kinder gehe.

Die Eheleute, er Brite, sie Australierin, hatten sich nach eigenen Angaben vor Jahren auf Bali kennengelernt. Ihr Leben auf Reisen hätten sie sich unter anderem als Koch und Holzexporteur, Reitlehrerin und Life Coach finanziert. 2021 ließ sich das Paar in dem knapp 800 Einwohner großen Abruzzen-Dorf Palmoli in der italienischen Provinz Chieti nieder. Abgeschieden, nahe der Natur, in einfachen Verhältnissen sollten die Kinder aufwachsen. Den kapitalistischen Lebensstil der westlichen Welt sollen die Eltern kritisch sehen.

Ihr Kinder sollten ohne Smartphones, Fernseher und soziale Medien aufwachsen, fernab einer "verrohten, aggressiven Gesellschaft, die den Menschen keinen Raum lässt", zitierte sie das Portal "Südtirol News". Vor den Behörden erklärten sie demnach, ihre Lebensweise sei nicht auf Vernachlässigung zurückzuführen, sondern auf den Wunsch, naturnah zu leben sowie die Beziehung zu ihren Kindern und die Tiere auf ihrem Grundstück zu schützen.

Auf dem Bauernhof – erworben für 20.000 Euro – sollen auch ein Pferd und ein Esel, dazu Hunde, Katzen und Hühner leben. Berichten zufolge ist das Haus nur über eine Schotterstraße erreichbar. Gekocht und geheizt werde mit Holz. Eine nahegelegene Quelle spende Trinkwasser. Brauchwasser werde aus einem Brunnen geschöpft. Die Toilette befinde sich außerhalb des Hauses unter einem Strohdach. Was die autark lebende Familie nicht selbst anbauen oder herstellen konnte oder im Wald fand, so berichten Anwohner, habe der Vater mit seinem in die Jahre gekommen Renault-Transporter im Dorf oder in einer der Städte der dünn besiedelten Gegend besorgt.

Italiens Vizeminister empört

Bis zum vergangenen Wochenende wussten vermutlich nur wenige von dem Einsiedlerleben der Familie. Den Behörden waren die sogenannten "Waldmenschen von Palmoli" im vergangenen Jahr einmal aufgefallen, als die Kinder wegen einer Pilzvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert worden waren. Die Carabinieri meldeten den Fall nach einer Kontrolle der Jugendstaatsanwaltschaft. Die schränkte die elterliche Aufsicht vorerst ein. Die Kinder blieben trotzdem bei ihren Eltern.

Vergangene Woche Donnerstag entschied das Jugendgericht in der Stadt L'Aqulia dan, dass die Kinder in eine pädagogische Einrichtung umziehen müssten. Italiens Vizepremier und Lega-Chef Matteo Salvini bezeichnete den Richterbeschluss als "beschämend", weil "sich der Staat erlaubt, in die private Erziehung und die persönlichen Lebensentscheidungen zweier Eltern einzugreifen, die in Italien ein gastfreundliches Land gefunden haben und denen nun ihre Kinder weggenommen werden".

Auch Regierungschefin Georgia Meloni ist mit dem Fall befasst. Sie soll ihn mit Justizminister Carlo Nordio besprochen haben. Er könnte demnach Inspektoren entsenden, die prüfen sollen, ob das Gericht rechtmäßig entschieden hat.

cl

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