Die Liebe zur Ecke lässt sich stammesgeschichtlich erklären: Das Fluchttier Mensch fühlt sich mit einer solchen Rückendeckung wohl, dieses Gefühl teilt man gern mit Freunden. Frauen, die sich im öffentlichen Raum ungern zwischen Fremden einquetschen lassen, lieben es, sich zu Hause auf Eckmöbeln mit Freundinnen und Freunden zu knubbeln. Auch Männer haben nichts gegen die Möbelstücke, die aussehen wie überdimensionale Bumerangs. An großen Flüssen lagern sich in Nischen Sedimente ab, genauso sammelt sich ein kleines Glück in Deutschlands Zimmerecken, weich wie Sand.
Im Möbelfachhandel sind Eckbänke Evergreens, Jung und Alt wollen welche haben. Der Rat, dazu einen Tisch mit abgerundeten Kanten anzuschaffen, weist darauf hin, dass eine Eckbank ihrer Bestimmung umso näher kommt, je mehr es sich an ihr drängelt. Gerät man auf Stühlen aneinander, ist das immer eher Kollision als Kontakt. Auf einer Bank zusammenzurücken ist einfach und macht froh. Während man dem etwa in Frankreich gern auf langen Bänken im Bistro nachgeht, mag es der Deutsche geknickt.
Eckmöbel sind der sich in Vollholz und Faserplatte ausdrückende Wille zur Gemeinschaftlichkeit. Allein auf einem Ecksofa fehlt einem etwas, genauer gesagt jemand. Niemand kauft sich so ein Ding, um allein um die Ecke zu liegen. Man möchte sich - einer da lang, einer dort lang - genau in dieser Ecke treffen, um die Köpfe zusammenzustecken. Während das gemeine geradeaus laufende Sofa nur ein hübsches, zweckmäßiges Möbel ist, kommt beim Ecksofa die umfassende Geste hinzu, die es darstellt. Man kann damit jemanden auf mobiliare Weise an sich heranziehen. Es nimmt einen auf, so wie King Kong die weiße Frau, behutsam und groß. Deutsche mögen das.
Wie Nilpferde in zu kleinen Gehegen stehen in deutschen Wohnzimmern Leder-Ecksofas und machen deutlich: sitzen ist Unrevolte. Das Gegenteil des Sich-gegen-etwas-Erhebens. Auf einer Eckbank zu sitzen kann aber auch zivilisatorische Vorteile haben. Zum einen befindet sich das Möbel stets in der Küche oder einem Gastraum und ist mitsamt seiner Besatzung prädestiniert, fliehende Genussmittel keinesfalls entkommen zu lassen. Zum anderen ist Eckmobiliar nicht auf konservatives Beharren festgelegt: Die dynamisierte Version der Eckbank ist das Schunkeln.
Während Solosofanutzer dazu neigen, wie in warmer Nährlösung treibend kommunikationsunwillig zu werden, machen Eckmöbel sozial. Die Eckbank ist die demokratische Version einer Privatinsel: Hier hält man sich nicht auf, um für sich zu sein, sondern mit Freunden, notfalls sogar mit Angehörigen. Hier findet der Deutsche einen uralten Gemütszustand wieder: Die moderne Zivilisation ist sehr jung, bis vor kurzem lebten wir als Jäger und Sammler in Kleingruppen, in denen die Individuen einander kannten. Auf der Eckbank ist es auf angenehme Art so wie früher.
Wer glaubt, dass es der Herrgottswinkel als einziger Teil der deutschen Ecke nicht ins 21. Jahrhundert geschafft hat, der wird staunen, wenn er ihn in seiner modernen Verwandlungsform erkannt hat, aus der Ecke heraus in die Tiefe des Raums vorgedrungen: den Computer. Nur aus den Tiefen des Spirituellen kann eine solche Inbrunst und Obsession kommen, wie man sie an Computerbenutzern vor ihrem elektronischen Hausaltar beobachten kann. Nirgendwo sonst, außer vielleicht beim Triathlon oder bei der Steuerhinterziehung, ist eine solche Verzückung zu beobachten. Nun stehen wir vor neuen Fragen wie dieser: Wo hat das Internet Ecken?