Dating Kreuze an: Vielleicht, vielleicht oder vielleicht? Was es mit Micro-Flirten auf sich hat

  • von Moritz Hackl
Micro-Flirten: eine Frau und ein Mann halten sich an den kleinen Fingern fest
Wir erleben Micro-Abenteuer, statt des Vollrauschs microdosen wir Substanzen. Da fügt sich das Datingphänomen Micro-Flirten gut ein
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Das neue Phänomen im Dating-Dschungel heißt Micro-Flirten. Wer tut das, wem soll es helfen – und wie kommen wir aus dieser Nummer wieder raus? 

Das Jahr hat gerade erst begonnen und schon gibt es einen neuen Begriff, der gegenwärtiger nicht sein könnte: Micro-Flirting. Was damit gemeint ist? Jemand flirtet, ohne dem oder der Beflirteten das allzu deutlich zu machen. Das Nachrichtenportal "Timesnownews" zählt Hinweise auf, woran man erkennen kann, ob man micro-beflirtet wird: Wenn sich der oder die andere Details merkt, die man ihm oder ihr erzählt hat. Wenn das Gegenüber einen vor anderen verteidigt. Wenn man gefragt wird, wie der Tag war, oder sich der andere um einen sorgt, wenn man krank wird.  

Klingt einfach nur nach einem netten Mitmenschen? Genau! Es ist beinahe unmöglich festzustellen, wo die Schwelle zwischen Freundlichkeit und Micro-Flirting liegt. Und das ist auch schon das Dilemma. 

Flirten wie Hänsel und Gretel 

Der Begriff reiht sich wunderbar ein in eine Gegenwart, die anscheinend alles mikroskopieren möchte: Wir erleben Micro-Abenteuer, statt des Vollrauschs microdosen wir Substanzen und statt unserem Crush deutlich zu machen, wie gut wir ihn finden, micro-flirten wir ihn 2024 also an. Woher das kommt? Vermutlich findet die Zaghaftigkeit im Wagnis ihren Ursprung in den überladenen Zeiten, in denen wir leben. Das Leben ist ein Buffet mit Tausenden Optionen und so nehmen wir von allem nur ein bisschen. Dazu würde auch die Meldung passen, die vor einigen Wochen die Runde machte: Dass junge Menschen so viel Angst vor der Speisekarte hätten, dass sie sich nicht mehr ins Restaurant trauen, sondern Essen nur noch nach Hause bestellen. Während sich vor wenigen Jahren alle den Kopf darüber zerbrachen, was ein Tattoo wohl für eine Bedeutung haben könnte, ist es jetzt schon der Mais-Bohnen-Burrito, der zum Aushängeschild unserer Seele wird. Als würde die öffentliche Wahl eines Abendessens zu viel über einen preisgeben.

Und wo wir schon beim Essen sind: Ein weiterer, nicht ganz so neuer, aber in der Praxis offenbar aktueller Begriff aus der Dating-Hölle, ist breadcrumbing. Er bezeichnet das Spurenlegen von Flirthinweisen. Wie Hänsel und Gretel verteilen Flirtaholics Zwinkersmileys und Auberginen-Emoticons auf ihren hormongepflasterten Wegen, ohne dabei anzuzeigen, wohin das alles führen soll. So gesehen könnte das Brotkrumen-Flirten der Vater des Micro-Flirtens sein. Was die beiden in der Außenansicht teilen, ist eine lähmende Unentschlossenheit, ein Jein zu allem.

Die Gen Z und das Micro-Flirten

Vermutlich sind es die jungen Menschen, die viel beschriebene Gen-Z – von der man langsam den Eindruck bekommen kann, sie sind gar keine Homo Sapiens mehr, sondern schon die nächste Stufe der Evolution, so schockiert wie die Welt auf sie schaut –, die micro-flirten. Aber wieso tun sie das? Haben sie Angst vor großen Entscheidungen, die immer auch große Konsequenzen nach sich ziehen? Oder sind sie emotional einfach zarter, durchlässiger als die Generationen vor ihnen, und wollen sich dem anderen nicht brachial zumuten? 

In einem viel beachteten Essay in der "Zeit", dessen Grundlage ausschließlich aus Gefühlen und Vermutungen bestand, bescheinigte der Journalist Jens Jessen den jungen Menschen schon 2022 eine spaßbefreite Ernsthaftigkeit. Sie fände ihren Ursprung in den ganzen Welten-Krisen – und natürlich in den Boomern, die mit ihrem hemmungslosen Spaß völlig gedankenverloren die Welt in einen Schrottplatz verwandelt hätten. 

Weitergedacht ergibt das auch im Dating-Kontext Sinn. Wer derart ernsthaft ist, geht natürlich auch ans Flirten mit einer Pro-Contra-Liste heran. Wenn sich also ein im Flirt-Prozess befindlicher Jugendlicher gerade fragt, warum sein Crush nicht antwortet, könnte die Antwort lauten: Weil er erst noch alle möglichen Szenarien berechnen muss, die auf den Gebrauch des Emoticons folgen könnten, das er gerade auszuwählen versucht. Anstrengend.

Die Angst vor der Ungewissheit

Und die Welt um uns herum nimmt ja auch nicht unbedingt den Druck raus. Die große Liebesexpertin und Soziologin Eva Illouz beobachtet im Hinblick auf die Masse an Selbsthilfebüchern, Workshops und Lebenshilfeforen, die sich mit Liebesangelegenheiten befassen, eine bohrende Ungewissheit über das eigene Gefühlsleben: "Wir haben Probleme damit, unsere eigenen und die Gefühle anderer zu verstehen", schreibt sie in "Warum Liebe endet". "Und nur mit Mühe, wenn überhaupt, können wir herausfinden, wann und wo man Kompromisse machen muss oder was wir anderen beziehungsweise was diese uns schuldig sind." Wir sind also – wie die jungen Leute und die, die es gerne noch wären, sagen würden – lost. Der andere ist ein Rätsel, das man nicht lösen kann. Seine Gefühle sind Phänomene, über die man nur staunen kann. 

War das schon immer so? Vielleicht. Aber heute ist es uns bewusster. So wird jeder Flirt zum Tanz auf dem Minenfeld. Und unsere Schritte folgerichtig immer leichter und tastender, um bloß keine Emotionserosion auszulösen. 

Wenn der Begriff Micro-Flirten also etwas über die Gegenwart aussagt, dann doch am ehesten, dass wir Ungewissheiten nicht mehr gut aushalten. "Unablässig versucht der moderne Mensch, die Welt in Reichweite zu bringen", schreibt der Soziologe Hartmut Rosa in "Unverfügbarkeit". "Dabei droht sie uns jedoch stumm und fremd zu werden: Lebendigkeit entsteht nur aus der Akzeptanz des Unverfügbaren."  

Die Freude an der Ungewissheit

Vielleicht sollten wir uns allen und insbesondere den jungen, im Datingzirkus noch recht neuen Menschen, also Mut machen: Der Flirt (das Gegenteil von "Micro"- nennt sich übrigens Full-Frontal-Flirting) ist und war schon immer ein Raum des Unbestimmten. Alles kann passieren. Vielleicht entpuppt sich der Crush als sogenannte große Liebe, vielleicht geschieht aber auch nichts und man hat einfach ein paar Mal Zwinker- und Küsschenemojis hin- und hergeschickt. Das eine ist so möglich wie das andere.

Die Lösung, sofern sie jemand sucht, könnte also wie so oft eine Mischung aus Einsicht und Mut sein: Nicht alles ist klar, nicht alles erschließt sich sofort. Wer die Schönheit in der Unwägbarkeit erkennt, hat durch seine eigene Reaktion auf das Leben die Möglichkeit, sich selbst kennenzulernen. Und wer sich dann noch traut, sein Visier ein Stück zu öffnen und sich zu zeigen, ganz echt und frontal und ohne doppelten Zwinkersmiley-Boden, hat gute Chancen auf das, was auf einen Flirt bestenfalls folgt. Das Dinner fürs erste Date kann man dann ja ruhig nach Hause bestellen.

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