Der Mann, für den Mie Mie schwärmt, heißt Lu Chen. Er hat rotbraunes Haar, das ihm strähnig in die Stirn fällt, die wilde Frisur kontrastiert mit seinen strengen Business-Anzügen. Lu Chen ist 26 Jahre alt und leitet als CEO die WanZhen Group, das milliardenschwere Finanzimperium seiner Familie. "Aber er ist bescheiden", sagt Mie Mie. "Ruhig. Smart. Ein Mensch, wie man ihm im echten Leben selten begegnet. Ich kenne niemanden, der so ist wie er."
Lu Chen ist, so steht es auf seiner Fan-Page, 1,86 Meter groß, sein Brustumfang beträgt 101 Zentimeter. Er trägt eine Brille, die er eigentlich nicht bräuchte, aber sie erschwert es Verhandlungspartnern, seinen Gesichtsausdruck zu lesen. Was man noch über Lu Chen wissen muss: Er hat rote Augen und entstammt einem alten Vampirgeschlecht. Und: Es gibt ihn gar nicht. Lu Chen ist einer von fünf fiktiven Männern, mit denen die Spielerinnen des chinesischen Smartphone-Videospiels "Licht und Nacht" virtuelle Romanzen erleben.
Eine reale Dating-Industrie erfüllt die Sehnsüchte der Gamerinnen
Interaktive Liebesspiele für Frauen, sogenannte Otome-Games, kommen ursprünglich aus Japan und boomen seit ein paar Jahren in China. Besonders während der Pandemie, als eine strikte Null-Covid-Politik der Jugend des Landes das Ausgehen erschwerte, verfielen viele junge Frauen den attraktiven Anime-Männern aus den Videospielen. "Licht und Nacht", das derzeit populärste Otome-Game aus chinesischer Produktion, wurde allein im zurückliegenden Jahr nach Angaben des Marktanalyse-Portals qimai.cn rund 2,5 Millionen Mal heruntergeladen.
Mie Mie, eine 29-jährige Dermatologie-Doktorandin aus der ostchinesischen Stadt Nanjing, spielte 2018 zum ersten Mal ein Otome-Spiel und entdeckte 2020 "Licht und Nacht". Lu Chen war sofort ihre Lieblingsfigur. Sie verschlang alles, was sie in Otome-Netzforen über ihren Schwarm finden konnte. Dabei stieß sie auf Erfahrungsberichte von Frauen, die von den Helden der Videospiele genau so angetan waren wie sie selbst – und die es geschafft hatten, ihren Traummännern in der Realität zu begegnen.
Rund um die virtuellen Spiele hat sich inzwischen nämlich eine reale Dating-Industrie entwickelt. In einschlägigen Netzforen entdeckte Mie Mie Annoncen von Cosplayerinnen, weiblichen Verkleidungskünstlern, die sich darauf spezialisiert haben, die männlichen Helden der Otome-Games zu verkörpern – und sich von deren Fans für romantische Verabredungen buchen lassen.
Mie Mie war erst skeptisch, als sie die Videos sah, die Otome-Spielerinnen an der Seite ihrer Traummänner zeigten. Aus Neugier sah sie sich Annoncen von Cosplayerinnen an, die ihren Lieblingshelden Lu Chen verkörperten, aber so detailgetreu deren Kostüme auch waren, keine schien Mie Mies Idol wirklich nahezukommen. Die Frauen wirkten zu jung, zu klein, nicht maskulin genug. Bei manchen hatten Kundinnen Rezensionen hinterlassen, die von einer zu großen Kluft zwischen der Aura des fiktiven Lu Chen und dem Auftreten seiner Nachahmerin sprachen.

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Mie Mie blieb skeptisch – bis sie eines Tages bei einer Otome-Party in ihrer Heimatstadt Nanjing plötzlich vor Lu Chen stand. Die Cosplayerin, die ihn verkörperte, war mit Ende 20 etwas älter als die meisten ihrer Kolleginnen, und sie arbeitete wie Lu Chen selbst in der Finanzbranche. Mie Mie unterhielt sich mit ihr – und hatte das Gefühl, ihrem Schwarm plötzlich sehr nahe zu sein. Wenig später buchte sie für 400 Yuan, etwa 50 Euro, ein Date mit ihr.
"Es war genau wie im Spiel"
Am Tag der Verabredung – dem Valentinstag – stand Lu Chen gegen Mittag mit einem Strauß Blumen vor ihrer Wohnungstür. Er nahm Mie Mie ihre Handtasche ab und trug sie während des gesamten Dates für sie, wie es Männer in China bei Verabredungen zu tun pflegen. Seite an Seite spazierten die beiden durch die Stadt. Als sie sich in ein Café setzten, fing es draußen plötzlich an, in Strömen zu regnen. "Es war genau wie im Spiel", sagt Mie Mie – in "Licht und Nacht" lernen sich Lu Chen und die weibliche Hauptfigur kennen, als beide vor einem Wolkenbruch in ein Café flüchten.
Der Tag verging mit Pärchen-Aktivitäten. Mie Mie und Lu Chen besuchten einen Do-it-Yourself-Workshop, bei dem sie gemeinsam Schlüsselanhänger bastelten. Als es dunkel wurde, gingen sie zusammen essen. Zum Schluss brachte Lu Chen sie zur U-Bahn. Sie verabschiedeten sich, und als sich Mie Mie nach ein paar Schritten noch einmal umdrehte, stand ihr Traummann noch immer am U-Bahn-Eingang und sah ihr hinterher. "Es war ein perfekter, glücklicher Tag", sagt Mie Mie.
Genau das ist das Gefühl, das Fang Huaitan ihren Kundinnen vermitteln will. Die Grafikdesignerin aus Shanghai ist in ihrer Freizeit Cosplayerin – und bietet seit ein paar Monaten Verkleidungsdates an. Die Figur, auf die sie sich spezialisiert hat, stammt wie Lu Chen aus "Licht und Nacht": Es ist der Chirurg Charlie, milliardenschwerer Erbe eines Pharma-Familienkonzerns, 28 Jahre alt, 1,87 Meter groß, silbergraues Haar, violette Augen.
Fang Huaitan sagt, sie versuche, Charlie bei den Dates so genau wie möglich zu verkörpern, äußerlich wie charakterlich. Sie trägt Plateauschuhe, die sie größer machen, und Schulterpolster, die sie muskulöser wirken lassen. Ihre silbergraue Perücke hat sie selbst zurechtgeschnitten, bis sie Charlies Frisur so nahe wie möglich kam. Sie hat viel Zeit damit verbracht, sich Charlies Wesenszüge aus dem Spiel abzuschauen, sich Sätze anzueignen, wie Charlie sie sagt. Bei den Dates senkt sie ihre Stimme, um männlicher zu klingen.
Derzeit bekomme sie jede Woche um die acht Date-Anfragen, sagt Fang Huaitan – Tendenz stark steigend. Anfangs bot sie die Verabredungen kostenlos an, weil sie sich erst in die Rolle einüben wollte. Inzwischen nimmt sie 500 Yuan pro Date, umgerechnet knapp 65 Euro. Alle Ausgaben während des Dates tragen ihre Kundinnen, aber Fang Huaitan lässt sich vorab einen Vorschuss von 1000 Yuan überweisen – um bei der Verabredung alles aus ihrer Tasche zahlen zu können, wie es Frauen von Männern in China in der Regel erwarten.

Bekommt sie eine Anfrage, prüft Fang Huaitan als Erstes, ob die Interessentin älter als 18 Jahre ist – Minderjährigen sagt sie grundsätzlich ab. Dann fragt sie nach Vorlieben, Essenspräferenzen und Allergien, nach Interessen, um gemeinsam mit den Kundinnen einen Tagesablauf festzulegen. Manche wollen Karaoke singen, andere Riesenrad fahren, wieder andere Bogenschießen. Manche wünschen sich, dass das Date mit einer Umarmung endet, andere ziehen einen Kuss auf die Wange vor – intimer werde es grundsätzlich nicht, sagt Fang Huaitan. Gerne gebucht werde auch ein finaler Heiratsantrag, meist mit feierlichem Austausch von Verlobungsringen – und nicht selten mit echten Tränen in den Augen ihrer Kundinnen.
Warum dieses Spiel mit Emotionen sie anzieht? Dafür hat Fang Huaitan, die im echten Leben Apps für eine Internet-Firma gestaltet, eine einfache Erklärung. "Ich habe einen sehr gewöhnlichen Bürojob", sagt sie. "Cosplay-Dating ist meine Möglichkeit, etwas Außergewöhnliches zu tun. Es bringt Licht in mein Leben."
Cosplay-Dates könnten Chinas Staatsführung verärgern
Chinas übermächtige Kommunistische Partei nimmt an all diesem Treiben bisher offenbar keinen Anstoß. Vermutlich sind die Kader aber auch noch gar nicht auf das neue Dating-Phänomen aufmerksam geworden. Sollte es irgendwann in ihr Blickfeld geraten, dürften sie es kaum gutheißen – die Staatsführung der Volksrepublik pflegt konservative Moralvorstellungen, mit denen sie zuletzt wiederholt Chinas Jugend gemaßregelt hat.
So erließ Ende 2021 die staatliche Medienaufsicht eine Richtlinie gegen öffentliche Auftritte junger Männer, deren Kleidung und Gebaren aus ihrer Sicht zu feminin wirken. Die Sender des Landes, hieß es darin, müssten "resolut weibischen Männern und anderen abnormalen Ästhetiken ein Ende setzen" und stattdessen "traditionelle chinesische Kultur, revolutionäre Kultur und fortschrittlich-sozialistische Kultur verbreiten".
Ein Jahr später richtete sich eine ähnlich gelagerte Kampagne gegen Tätowierungen, die dem Parteiblatt "Global Times" zufolge für "schädliche" Ideen wie "feudalen Aberglauben", "Gang-Kultur" und "ausländische Traditionen" stehen und "Minderjährige von sozialistischen Kernwerten entfremden". Auch gegen "exzessive Fan-Kultur" erließen staatliche Behörden vor wenigen Jahren umfangreiche Regelungen. Und seit 2021 dürfen Online-Videospiele in der Volksrepublik nur noch mit Sperren angeboten werden, die ihre Nutzung für Minderjährige auf streng begrenzte Zeitfenster beschränken.

Die Cosplay-Dates könnten aber noch aus einem anderen Grund den Ärger der Partei auf sich ziehen. China kämpft mit einer stetig sinkenden Geburtenrate, die die Staatsführung anzuheben versucht, indem sie ein konservatives Ehe- und Familienbild propagiert. So profitieren von Fördermaßnahmen für junge Familien ausschließlich verheiratete, heterosexuelle Paare. Außerdem wurden 2021 Ehescheidungen erschwert, und Parteiverantwortliche appellieren gerne an die jungen Frauen des Landes, zu heiraten und ihren Beitrag zur Steigerung der Geburtenrate zu leisten. Cosplay-Dates, die erkennbar nicht der Gründung einer Ehe und Familie dienen, dürften Anhängern eines solchen Rollenverständnisses wenig gefallen.
Bleibt die Frage, warum Frauen, die für männliche Helden schwärmen, ihre Liebesidole von Frauen verkörpern lassen – und nicht von Männern. Die komplette Otome-Szene ist weiblich, bei den Cosplay-Partys der Videospiel-Fans sind Männer in der Regel nicht einmal als Gäste zugelassen.
"Ein Date mit einem Mann, das geht nur zwischen echten Paaren", sagt Mie Mie, die Dermatologin aus Nanjing. "Imitieren kann man das nur mit einer Frau." Außerdem, fügt sie hinzu, hätte sie Sicherheitsbedenken, sich bei einem Date einem fremden Mann auszuliefern. Der wichtigste Grund aber sei ein ganz anderer: Sie könne sich einfach nicht vorstellen, dass ein Mann die Rolle ihres aufmerksamen, einfühlsamen, ihr jeden Wunsch von den Lippen ablesenden Traumpartners Lu Chen ähnlich überzeugend spielen könne wie eine Frau. "Frauen", sagt Mie Mie, "wissen einfach besser, was Frauen sich wünschen."