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Nostalgie gone wrong Kommt mal klar – die 90er waren eigentlich eine zehn Jahre dauernde Vollkatastrophe

Zwei junge Menschen tanzen bei der Love Parade 1996
Ja, man konnte Spaß haben in den 90ern – wie hier bei der Love Parade 1996 – aber dazu musste man dem Teenie-Alter entwachsen sein
© Peer Grimm / Picture Alliance
Wir feiern entzückt Retro-Späße wie Frufoo, Tattoo-Halsbänder und die Reunion von Tic Tac Toe. Aber die coolen 90er, auf die sich heute von Mode bis Musik alles zu beziehen scheint, gab es so nie. Es war ein Jahrzehnt der Geschmacklosigkeit, der Hässlichkeit und des Mainstreams – findet unsere Autorin.

Okay, vorab eine Entschuldigung an meine Eltern. Als in den 90ern dieser schlimme Euro-Dance-Billo-Techno die Radiowellen und den CD-Markt beherrschte, griffen schamlose Produzenten gerne auf ältere Song-Klassiker zurück, um sie zu remixen oder zwischen Random-Rap-Partien in ihren Machwerken zu verhunzen. Angefangen bei der "Insel mit zwei Bergen" über die Dune-Variante von "Who Wants To Live Forever" oder "Computerliebe" von Das Modul. (Wir müssen hier anstandshalber auch "I'm Raving" von Scooter erwähnen, das feiern wir allerdings ein bisschen.) Jedenfalls konnte man drauf wetten, dass man beim Kauf einer entsprechenden Maxi-Single (jawohl) folgenden Satz von seinen Eltern zu hören bekam: "Das gab's doch alles früher schon mal." Wir haben dann milde gelächelt und gedacht: "Wen interessiert denn früher?!"

Sorry liebe Eltern, ihr hattet irgendwie Recht

Tja. Karma is a bitch. Heute laufen die fünfzehnjährigen Mädchen mit Tattoo-Halsbändern aus elastischem Plastik rum, mit zu dunklem Make-up, schlecht sitzenden Hosen, bauchfrei und mit Plateau-Schuhen. Kommt mir irgendwie bekannt vor. Und egal, was wir dazu sagen würden, wir würden klingen wie unsere Eltern. "Gab's doch alles früher schon mal!"

Aber eines muss jetzt mal raus: Es ist völlig okay, die 90er ironisch abzufeiern. Das drängt sich ja beinahe auf. Es ist allerdings richtig, richtig seltsam, diese Ära ernsthaft als cool, geschmackvoll oder irgendwie inspirierend anzusehen. Wie absurd! Aber das können die Fünfzehnjährigen natürlich nicht wissen – sie waren ja beim ersten Mal nicht dabei.

Wer aber 1995 ein Teenager war, der war echt arm dran. Wenn er nicht gerade coole ältere Geschwister hatte, dann wusste er nichts von Nirvana oder Pearl Jam, sondern musste sich 24/7 mit dem zufrieden geben, was Radio und "Bravo Hits" ihm vorsetzten: Euro-Trash. Rednex, La Bouche, E-Rotic oder Captain Jack. Dr. Alban, Mr. President oder Scatman John. "Macarena" und "Bailando". Und jede Menge längst vergessenem Billo-Techno, der aus Kinderliedern mit drügergeklebtem Wummer-Beat bestand.

Ohne Ironie geht 90er-Mucke gar nicht

ABER EURO-DANCE IST DOCH WITZIG?! Ja, witzig. Aus der Distanz von zwanzig Jahren betrachtet ist er sogar superwitzig. Wir feiern heute tatsächlich gerne zu Ace Of Base und Co. und haben dabei eine gute Zeit. Aber immer mit einer Prise Ironie. Diese Ironie fehlte in den 90ern allerdings vollkommen. Da waren diese Partyknaller ganz ernsthaft die Musik der Stunde. In den Charts. Im Radio. Überall. Es gab kein Entkommen. Ungefähr drei skrupellose Typen in einem Keller in Frankfurt am Main verdienten sich als Produzenten so ziemlich aller Superhits dieses Jahrzehnts ein goldenes Gesäß. Keine Nummer dürfte länger als fünf Minuten von der Komposition bis zum fertigen Mix gedauert haben.

Ich dachte jahrelang, bis ziemlich genau zur Jahrtausendwende, ich mag keine Musik. Was absurd ist, weil ich bald darauf richtige Musik entdeckte und der weltgrößte Musikfreak wurde. Aber wenn ich heute "Saturday Night" von Whigfield höre, bin ich immer noch sofort bereit, mit Dingen um mich zu schmeißen und übertrieben mit den Zähnen zu knirschen. Um es mal deutlich zu sagen: Was die 90er für gute Musik hielten, war eine 1A-Katastrophe.

Wir sahen alle zehn Jahre lang bescheuert aus

Und dann die Mode. Zuerst unförmige Jeans mit unförmigen Pullis, auf denen riesengroß Markennamen prangten – naja, oder "Fishbone". Irgendwie stylish? Hell no. Überhaupt die Markengeschichte. Die wird vermutlich auch heute noch in Schulen ein Thema sein, aber in den 90ern war es extrem: Wer hatte die richtigen Buffalos – also die von Buffalo? Die für 200 Mark? Wer hatte Jeans von Pepe oder Diesel? Bei wem lugten Calvin-Klein-Unterhosen zwischen Hosenbund und Steißbein hervor? Das war wichtig und konnte darüber entscheiden, ob du heute sentimental oder mit Magenschmerzen an deine Jugend zurückdenkst.

Dann kam die Super-Ghetto-Fashion. Die berüchtigten Adidas-Knopfhosen – ihr wisst selbst, wie man die eigentlich nennt. Man gab viel Geld dafür aus, oder nötigte seine Eltern dazu, um so richtig schön beschissen auszusehen. So, als hätte man gerade drei Tage auf dem Fußboden im Lidl geschlafen und dabei Tic Tac Toe gehört. Wir machten das, weil es alle machten, und weil es kein Internet gab, das einem andere Möglichkeiten aufzeigte. Wir machten das, weil die "Bravo" es uns empfahl, und wir alle lasen die "Bravo".

Die "Bravo" hatte Macht über uns Teenies

Und dann kam die Techno-Mode. Erinnert sich noch irgendwer an die Jeans-Krise? Als Levis, Lee und Co. lautstark öffentlich um ihre Existenz bangten, weil die merkwürdigen Jugendlichen plötzlich keine Jeans mehr kauften? True dat. Wir quetschten unsere unteren Hälften plötzlich lieber in pure Synthetik. Entweder in enanliegende Plastikhosen mit kleinem Schlag unten, womöglich gar mit mutigem 70er-Disco-Psychedelic-Print. Oder weit wie ein Zelt und aus dem gleichen Material wie ein Zelt, nur in Neon-Farben. Und ja, auch ich und meine Siebtklässler-Freunde aus dem Provinz-Gymnasium trugen sowas ganz normal im Alltag.

Nennt ihr das Style? Nennt ihr das Mode? Nennt ihr das schön? Ich möchte vehement widersprechen.

Seid froh, dass ihr nicht dabei gewesen seid

Zusammengefasst habe ich heute eher das Gefühl, die 90er irgendwie überstanden zu haben, als sie genossen oder gefeiert zu haben. Gut wurde es erst zur Jahrtausendwende hin. Plötzlich las man statt der "Bravo" lieber die "Young Miss", in der auch Ideen abseits des rigorosen Mainstreams aufgezeigt wurden. Plötzlich war wichtiger, wie man seine Klamotten kombinierte, als wo man sie gekauft hatte. Plötzlich war alles irgendwie offener und freier. Ich glaube nicht, dass irgendein 90er-Teenie dieses Jahrzehnt ohne das ein oder andere Trauma überstanden hat. Und wenn wir uns heute über solchen Quatsch wie die Rückkehr von Frufoo oder die drohende Tic Tac Toe-Reunion freuen, dann schwingt darin auch die Freude mit, es irgendwie heile da raus geschafft zu haben und heute milde lächelnd zurückschauen zu können.

Lasst die Fünfzehnjährigen halt machen. Ist doch toll, wenn man machen kann, was man will.

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