"Icke muss vor Jericht" "Es juckt so fürcherlich, Herr Richter"

Auch wenn es juckt: Im Schritt kratzen sollte sich nur, wer wirklich unbeobachtet ist
Auch wenn es juckt: Im Schritt kratzen sollte sich nur, wer wirklich unbeobachtet ist
© Colourbox
Die Nachbarinnen sagen, der Mann habe die Hand in der Hose gehabt und sie belästigt. Der Angeklagte sagt, stimmt nicht, er sei krank. Was folgte, war eine detailreiche Schilderung eines Genitalleidens, die stern.de-Gerichtskolumnistin Uta Eisenhardt nun mit anhören musste.

Nachts soll der dreifache Familienvater im beleuchteten Zimmer seiner Erdgeschosswohnung gestanden haben, vor dem Fernseher, in dem gerade gestöhnt wurde. Nackt sei er dabei gewesen und habe seinen Penis in der Hand gehalten, die sich hin und her bewegt haben soll. Bei seiner Beschäftigung habe der Angeklagte den mit ihren Hunden vorbeispazierenden Nachbarinnen provozierende Blicke zugeworfen. "Manchmal hat er getanzt", sagt Nachbarin Silvia. Sie will nur kurz ins Fenster von Hakan Sönmez* geschaut haben und sei sofort weitergegangen, als sie sein Treiben mitbekam.

Auch Nachbarin Kerstin beobachtete den 35-Jährigen beim Spielen an seinem Geschlechtsteil. "Die Gardinen waren beiseite gezogen, im Zimmer war volle Beleuchtung - er wollte gesehen werden", sagt die U-Bahn-Fahrerin vor Gericht. Ob der Penis steif gewesen sei, will der Richter von der Zeugin wissen. "Das möchte ich nicht beurteilen", sagt die blondierte Mittvierzigerin. "Ich hatte das Gefühl, er zieht den lang." Zunächst habe sie sich mit einer befreundeten Hundebesitzerin darüber amüsiert. Doch als ihr zeigefreudiger Nachbar eines Tages mit dem Fahrrad hinter ihr her fuhr, bekam sie Angst. "Da hat er bei mir eine Grenze überschritten. Ich musste etwas unternehmen", erklärt die füllige Blondine dem Richter. Sie zeigte Sönmez bei der Polizei an. Daraufhin verklebte der seine Fenster mit Folie. "Seitdem war auch wirklich Ruhe", sagt seine Nachbarin.

Uta Eisenhardt

Uta Eisenhardt ist Berlinerin in dritter Generation. Seit fünf Jahren ist sie Gerichtsreporterin. In der stern.de-Kolumne "Icke muss vor Jericht" berichtet sie aus dem Berliner Amtsgericht, einem der größten Deutschlands. Jede Woche schreibt Eisenhardt über einen Prozess mit dem gewissen Etwas: manchmal traurig, manchmal kurios - immer spannend.

"Es juckt fürchterlich"

"Ich war mir nicht bewusst, dass ich beobachtet werde", sagt Sönmez vor Gericht. Er hätte sich sonst abgewandt. "Diese exotische Handlung", sagt der kleine, dünne Mann mit dem langen, lockigen Zopf, habe er nicht begangen. Verschwörerisch beugt sich der Angeklagte zum Richtertisch: Er sage dies hier zum ersten Mal, aber er habe seit sechs Jahren ein Problem. "Nach einem Besuch im Freibad sind da unten komische Sachen gewachsen." Seitdem würde ihn seine Frau bitten, sich behandeln zu lassen. "Das muss operiert werden, damit die Dinger abgeschnitten werden." Doch er habe Angst, "dass das dann nicht mehr funktioniert". Darum sei er noch nicht beim Arzt gewesen. "Aber wenn Sie sagen, ich muss gehen, dann gehe ich!", versichert der schmächtige, türkischstämmige Deutsche dem Richter. Doch der skeptische Jurist kann die Scheu vorm Arztbesuch nicht verstehen, das Gericht jedenfalls könne diesen nicht anordnen.

Beschwörend redet der in Fahrt gekommene Mann auf den Richter ein. "Es juckt, es juckt fürchterlich", sagt Sönmez. Es würde sich nicht ständig bemerkbar machen, aber manchmal müsse er sich so sehr kratzen, dass es bluten würde. "Das bringt einen zum Weinen dieses Jucken." Um seinen Körper zu betäuben, würde er jeden Morgen eine Schmerztablette nehmen. Dadurch habe er bereits Magenschmerzen bekommen und zehn Kilo abgenommen. Abends sei der Drang zum Kratzen am stärksten. "Auf einmal kommt es, dann muss ich jucken. Und dann sieht es aus, als ob ich da was runterhole, als ob man exotische Sachen macht. Man sieht ja nicht, dass ich krank bin."

Ein überraschendes Attest

Der Richter glaubt ihm kein Wort. Warum habe er die Frauen angeschaut, als er sich kratzen musste? Er habe nicht gewusst, dass ihn jemand beobachten würde, sagt der Angeklagte. Wenn er sich heute kratzen müsste, würde er sich ins Bad zurückziehen. Und warum habe er Pornos geschaut, bohrt der Richter weiter. Er schaue abends lange Fernsehen und spät nachts würden in den Privatsendern eben solche "komischen Sachen" laufen, lautet die schlüssige Antwort. Und warum sei er nackt gewesen, interveniert der Richter ein drittes Mal. Er sei nicht nackt in der Wohnung umhergelaufen, sagt Sönmez. Er habe wenigstens Unterhose und Shorts getragen. Im Übrigen sei er noch nie einer Frau hinterhergegangen. "Noch nicht einmal meiner eigenen Frau. Die ist mir hinterhergegangen."

Hakan Sönmez hält die Vorwürfe für eine Verschwörung seiner Nachbarinnen. Es habe mit ihnen immer wieder Streit wegen der Hunde gegeben - die seien aggressiv gegenüber Kindern. Er räumt ein: "Meine Schuld ist, dass ich so eine Krankheit habe und rangegangen bin, ohne Licht auszumachen." Ob der Richter ihn nicht doch zum Arzt schicken könnte? "Ich will mich eigentlich behandeln lassen", sagt Sönmez. "Aber jemand muss mich zwingen." In diese Rolle möchte der Richter sich nicht drängen lassen: "Ihre Geschichte mit der Krankheit glaube ich Ihnen nicht", sagt er. Verzweifelt beteuert der Angeklagte: "Ich würde es Ihnen gern zeigen. Das ist so ein großes Ding!" Mit einem gequälten Lächeln lehnt der Richter die Offerte ab. Doch er will Sönmez nun doch zum Arzt schicken, damit der beim nächsten Verhandlungstermin ein Attest vorlegen kann.

Zehn Tage später erscheint der Angeklagte tatsächlich mit der ärztlichen Diagnose über ein ausgeprägtes Penis- und Hodengeschwür. Trotzdem möchte der Richter ihn nicht freisprechen. Wenigstens die provozierenden Blicke, die Sönmez den Frauen zugeworfen haben soll, müssen geahndet werden. Der Richter schlägt vor, das Verfahren einzustellen, wenn der arbeitslose Familienvater binnen eines halben Jahres 150 Euro an "Ärzte ohne Grenzen" zahlt. Sönmez willigt sofort ein, schimpft noch ein bisschen über seine Nachbarinnen und verlässt zufrieden den Saal.

*Name von der Redaktion geändert

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